Jeden Morgen liest Hegel Zeitung

Von Alexander Kluge | | Leseproben

Der Philosoph las außer den Berliner Blättern täglich die Edinburgh Review. Er war auf das Detail kapriziert. Das findet sich im Rohmaterial der Nach­richt, nicht in der Meinung. Hegel brauchte mehrere Zeitungen, um unter der Tünche der Meinung die Einzelheiten wiederzuerkennen: Er las nicht, er pro­duzierte. Stets neugierig auf die Wirklichkeit, bestehend aus unbezwinglicher EINZELHEIT (zum Beispiel Familien), dem BESONDEREN und dem ALLGE­MEINEN. Diese Dreiheit ist als Durcheinander und nicht als Nebeneinander wirklich. So zeigt die Wahrheit lange Zeit ihr Medusenhaupt und dann in einem glücklichen Blitz auch ihr Gesicht.
Während er an Teil IV A seiner Phänomenologie schrieb, fesselten ihn die Be­richte über den Sklavenaufstand in St. Domingue, das wir heute Haiti nennen. Die schwarzen Plantagenarbeiter hatten sich zu Soldaten erklärt und kämpf­ten mit dem Leitsatz: Freiheit oder Tod gegen Franzosen, Briten und Spanier. Die revolutionäre Bewegung hatte 500 000 Seelen erfaßt, die über einen Zeit­raum von hundert Jahren von Afrika in die Karibik geschafft worden waren. Sind sie bereit, ihr Leben für die Freiheit zu wagen, so haben sie den Status von Herren, schloß Hegel. Niemanden aber haben sie zum Knecht, fuhr er in der Rekonstruktion des Rohmaterials der Nachricht fort: die britischen Händler nicht, die Franzosen auch nicht. Er hatte bisher nichts davon gehört, daß diese schwarzen Republikaner ihre eigenen Leute zum Knecht machen wollten, der die Arbeit leistet. Einen Herrenstatus wiederum, folgerte Hegel, konnten sie aus ihrer wilden Heimat in Afrika nicht mitgebracht haben. Er hätte auch nicht ihrer Identität während der Sklaverei entsprochen, die sie doch in jedes neue Leben mitnahmen, weil ein Mensch Identitäten nicht ein­fach ablegen und sich neue aussuchen kann, davon ging Hegel aus. Vielmehr schien ihm die Verwandlung von ehemaligen Sklaven in »Herren« auf einem blitzartigen Impuls des Bewußtseins zu beruhen, der in einer revolutionären Situation entsteht, indem ein Mensch sich am anderen entzündet.
Währenddessen lieferten die britischen Schiffe weiterhin Zucker nach Euro­pa. Er kam aber von Plantagen auf anderen Inseln als Haiti. Die Revolutio­näre schienen seinerzeit abgeschnitten vom Weltmarkt. Selbst wenn sie auf den großen Plantagen weiterhin gearbeitet hätten (das taten sie aber wohl nicht), hätten sie keine Herrschaft darüber gehabt, wie man das wertvolle Luxusprodukt bis zu den Kaffeetassen von Leipzig und in die Münder der Menschen bringt. Besser, sagte sich Hegel, sie wären wieder Sklaven und hät­ten Arbeit.

Er schwankte, ob es einen menschlichen Status als Zwitter oder Amphibie gebe, so daß im gleichen Bewußtsein (wie die Köpfe eines Doppeladlers, und wir besitzen zwei Hemisphären des Gehirns) Herr und Knecht zur Kooperati­on kämen. Der eine Teil des Bewußtseins verwandelt sich zu jedem Zeitpunkt in den anderen, und die gegenseitige Anerkennung bringt sowohl den Mut, das Leben einzusetzen, wie die (jetzt aber nicht als Furcht vor dem Herrn be­gründete) Willigkeit zur Arbeit hervor. Das dachte Hegel beim Zeitunglesen, schrieb es aber, so wie er es empfand, nicht ins Manuskript. Ab 11 Uhr, wie es seine Gewohnheit war, begann Hegel mit dem Schreiben. Täglich waren fünfzehn Seiten sein Pensum. An diesem Tage kam er bis zu den Sätzen:
»Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Per­son anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins [. . .] nicht erreicht. Ebenso muß jedes auf den Tod des anderen gehen [. . .]. Es verschwindet aber damit aus dem Spiele des Wechsels das wesentliche Mo­ment, sich in Extreme entgegengesetzter Bestimmtheit zu versetzen; und die Mitte fällt in eine tote Einheit zusammen [. . .]. Ihre Tat ist die abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewußtseins, welches so aufhebt, daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhellt [. . .].«

(aus: Alexander Kluge: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. Suhrkamp Verlag: Berlin 2012, S. 157-158.)