Der krumme Weg des Guten

Von Thomas Schmid | Quelle Welt am Sonntag 28.04.13 | | Rezensionen

Labor der Vergangenheit: In seinem neuen Geschichtenband entfaltet Alexander Kluge seine ganze Meisterschaft als Erzähler

Die Anthropologin war besorgt, ihr prächtiger Forschungsgegenstand drohte ihr abhandenzukommen. In der Gegend der südpolnischen Stadt Tarnów war die Feldforscherin Dr. Elfriede Fliethmann, gewissermaßen im Windschatten der Deutschen Wehrmacht unterwegs, im Jahre 1941 auf kinderreiche orthodoxe Familien gestoßen – ein "rassisch-anthropologisches Wunder", wie sie es nannte. Nirgendwo sonst, urteilte sie, sei die ursprüngliche Formation des galizischen Judentums derart rein zu studieren. 

Die Zeit eilte, denn die Forscherin wusste ja gut, dass ihr Untersuchungsgegenstand dem Tode geweiht war. Da die Abteilung VII des Reichssicherheitshauptamtes, mit der sogenannten Gegnerforschung beauftragt, Interesse an ihrer Untersuchung zeigte, hoffte sie auf Aufschub. Prof. Dr. Franz Alfred Six, der Leiter der Abteilung VII, unterstützte das Ansinnen, man müsse, schrieb er, "erst forschen und dann töten". Six, später Mitglied der FDP und Werbechef der Porsche Diesel Motorenbau GmbH in Friedrichshafen, fügte hinzu, nur die Erforschung dessen, was man tötet, gebe Einblicke in die rechte Art und Weise der Eliminierung. Der Einspruch wurde abgelehnt, die Zeit drängte ja. Und ohnehin war in den oberen Rängen, die das große Ganze im Auge haben müssen, das Interesse für die Einzelgebiete der neuen NS-Herrschaftsbereiche nur gering. Also: töten, ohne zu forschen.

48 schreckliche Geschichten dieser Art erzählt Alexander Kluge in seinem neuen Buch. Sie sind (fast) alle auf provozierende, man könnte auch sagen: brutale Weise nüchtern und sachlich, es sieht auf den ersten Blick so aus, als verbiete sich der Autor – der auch hier oft die Akten erzählen lässt – jede Wertung, jede Anteilnahme, jedes moralische Urteilen. Viele Geschichten handeln von der inneren Logik, aus der heraus der Holocaust erwogen, beraten, beschlossen und betrieben worden ist.

Als sei die Welt ein wüster Ort, an dem Zweifel, gar Mitgefühl nirgendwo einen Platz haben, wird von der Schwierigkeit, menschliche Leichen rückstandslos zu vernichten, ebenso erzählt wie von den Tricks, mit denen die Suhler Waffenfabrik Simson ihren jüdischen Besitzern entrissen wurde. Über dieser Welt – die von Budapest bis Odessa, von Rom bis Wilna reicht und in deren Mitte Berlin seine Fäden zieht – thront kein Gott, kein moralischer Imperativ wohnt unter den Menschen. Alles, auch alles Barbarische, ist möglich. Und weil es möglich ist und eine Form von Folgerichtigkeit auf seiner Seite hat, geschieht es auch. Wie immer schon, verbietet sich Kluge gefühlige Anteilnahme.

Und doch hat er ein Buch geschrieben, das anders ist als die stattliche Legion seiner anderen Erzählungen. Das mag an der Engführung des Themas liegen, mit der sich der Autor gewissermaßen selbst diszipliniert hat. Kluge war stets ein Monteur, der seine Effekte auch damit erzielte, dass er auf seinen Seiten Zug um Zug zusammenfügte, was – zumindest auf den ersten bis dritten Blick – nicht zusammengehört: vom Halberstädter Luftschutzkeller über Stalingrad bis zur Oper und zum bundesdeutschen Büronahkampf. Es war darin zuweilen ein Mutwille und ein Drang zum Paradoxon um jeden Preis erkennbar, der ermüden konnte: einmal Kluge, immer Kluge.

Auch in diesem Buch bleibt Kluge der jonglierende Künstler, der er immer war. Doch er bescheidet sich, er beschränkt sich, er verzichtet auf Opulenz, erzählt nicht von Alpha bis Omega. Das liegt vermutlich daran, dass dieses Buch einen Fluchtpunkt hat: Es ist ein Freundschaftsdienst, eine furiose Hommage an Fritz Bauer, den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt. Bauer war ein schwäbischer Jude, der emigrieren musste, zurückkehrte und sich als Jurist in vorwegnehmender Staatszustimmung in den Dienst der jungen Bundesrepublik stellte. Der Sozialdemokrat fand im damals sozialdemokratischen Hessen einen Ort, an dem er in der ihm eigentümlichen Mischung aus Freundlichkeit und Härte daran gehen konnte, das neue Gemeinwesen auf juristischer Ebene mit den NS-Verbrechen zu konfrontieren, die damals noch keine zwanzig Jahre zurücklagen. Ohne ihn wäre Adolf Eichmann nicht gefasst worden, ohne ihn hätte es den großen Frankfurter Auschwitzprozess 1963-65 nicht gegeben.

Alexander Kluge, selbst Jurist, kannte den Mann und die vorder- wie hintergründigen Anfeindungen, denen er durch einen Staats- und Justizapparat ausgesetzt war, in dem mancher Täter und viele Mitläufer noch immer das Sagen hatten. Auf eine Weise konfrontieren Kluges 48 Realerzählungen den Leser unerbittlich mit den grauenvollen Taten, mit denen sich Fritz Bauer, vor Aktenbergen sitzend, Tag für Tag zu beschäftigen hatte. Das Buch versetzt zurück, es setzt den Leser an Bauers Schreibtisch. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, lässt es die menschliche Größe wieder auferstehen, deren es bedurfte, um den Tätern und ihren aller Beschreibung spottenden Taten geduldig hinterherzusetzen. Und dann merkt man, dass Kluges Geschichten so eindeutig nicht sind, wie es zu Anfang der Lektüre die Monotonie der Untaten suggeriert, die in einem Labor jenseits aller Moral stattzufinden scheinen. Das Feuer der Empathie ist keineswegs erloschen.

Da ist der italienische Generalkonsul in Nizza, Alberto Calisse: "Er war kein spezieller Judenfreund, allerdings sah er auch keinen Grund für Feindschaft." Hitler, in dem er einen Schauspieler sah, mochte er nicht, Hitlers Schergen, die Frankreich nach versteckten Juden durchkämmten, hielt Calisse, der ein spielerisches Verhältnis zur Wirklichkeit unterhielt, für Irrende, nicht für Mörder. Weil ihm das nicht gefiel, rettete er eine größere Gruppe von Juden. Als einer der Geretteten zwei Jahre später den Retter retten wollte, kam er zu spät: Als Faschist war Calisse am Lago di Como erschossen worden. Und noch eine Drehung weiter: "Da er Calisse nicht fand, bewahrte er andere Faschisten vor dem Tod. Das war ungerecht. Es kommt aber, das schien ihm Calisses Botschaft zu sein, auf GENEROSITÄT und nicht auf den einen oder anderen Verstoß gegen die Gerechtigkeit an." Das Gute kann krumme Wege nehmen.

Bei Kluge ist es weder Kitsch noch Schmu, wenn inmitten der Hölle Menschen einander helfen, entkommen oder ein kleines Feuer von Humanität entzünden. Man muss diese kurzen Geschichten, die trotz ihres furchtbaren Gegenstands an die behütete Welt der Kalendergeschichten erinnern, einzeln und sehr genau lesen. Der Autor, oft gar nicht sichtbar, versteckt seine Pointen, der Leser läuft Gefahr, unachtsam über Abgründe und überraschende Wendungen hinwegzulesen. Vielleicht nie zuvor hat Kluge so ergreifend erzählt. Sein Minimalismus hat hier alles Kalkül hinter sich gelassen, der Mechaniker ist ein wirklicher Geschichtenerzähler geworden. Gegen Ende holt er sich den niederländisch-sephardischen Philosophen Spinoza an seinen Montagetisch und lässt ihn sagen, das Gute sei der Fluchthelfer vor dem Bösen. So eigenartig das klingt, Alexander Kluge hat ein fast zärtliches Buch über die ungeheure Überlebenskraft der Tugenden geschrieben.

Es war wohl die Erinnerung an den Freund Fritz Bauer, die ihm das möglich gemacht hat. Die 49., dem Buch kursiv vorangestellte Geschichte erzählt von der Trauerfeier für Bauer, der im Juli 1968 in seiner Badewanne ertrunken war: der Sarg in einem Gebüsch dickblättriger Ölpflanzen, keine Reden, keine Brücken, keine Versöhnung, nur drei Streichquartette Beethovens, die Theodor W. Adorno ausgesucht hatte und, wie Kluge schreibt, auf Regierungskosten komplett durchspielen lässt, für die Trauergäste "unmäßig lange". Später eine "Nachfeier" im Salon 15 des "Frankfurter Hofes". Man versucht, den Verwandten des Toten aus Schweden, die ihn praktisch gar nicht kannten, etwas von dessen lebendiger Erscheinung zu vermitteln. Es geht bis 17 Uhr, der Nachmittag verklingt, läuft aus. "Die Anwesenden wollten sich von dem Toten nicht trennen. Solange sie hier zusammensaßen, war noch etwas von ihm zu fassen." Dann mussten sie doch auseinanderlaufen. Die westdeutschen Jahre des Aufbaus, in denen die alten Waggons noch kreuz und quer durch die Republik gezogen wurden, waren auch grausame Jahre.

Alexander Kluge, "Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter". 48 Geschichten für Fritz Bauer, Berlin, Suhrkamp Verlag, 118 Seiten, 17,50 Euro

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