Trostgeschichten für Gefesselte

Von Claus Phillipp | Quelle www.derstandard.at - 13.09.2003 | | Rezensionen

"Die Lücke, die der Teufel läßt": In der Woche von Adornos 100. Geburtstag legt der diesjährige Büchner-Preisträger Alexander Kluge ein atemberaubendes Kompendium neuer Geschichten vor.

Claus Philipp über eine von vielen möglichen Lektüren.

Manchmal ist es sinnvoll, das Kleingedruckte zuerst zu lesen. Begegnung in Marseille heißt im neuen Buch von Alexander Kluge ein Text über Walter Benjamin, zu dem eine längere Fußnote wesentliche Motive von Die Lücke, die der Teufel läßt an den (Seiten-)Rand drängt und gleichzeitig umso deutlicher - man muss nur lesen wollen - ausstellt.

In dieser Geschichte, pendelnd zwischen Bericht und fiktivem Interview, trifft der "Geisterseher" Walter Benjamin, bereits auf der Flucht vor den Nazis, auf den Juristen Franz Neumann. Es entspinnt sich ein Gespräch, in dem der Philosoph, gequält und von Geldnöten gepeinigt, Ausflüchte wählt, zu schwadronieren beginnt, und unerwarteten Mehrwert produziert. "So sprach Benjamin vom Gott Saturn, der auch Planet sei, mit schwarzem und weißem Pferd vor seinem Götterwagen. Sobald aber die Vorstellung des doppeldeutigen Saturns, einer rätselhaften Macht, die uns überkommen kann, ohne dass wir widersprechen könnten, in die eines gütigen Gottes verschoben wird, brauchen wir, sagte Benjamin, den Teufel. Beide, die hier Kaffee tranken, wünschten sich Vorstellungswelten, ja vorstellungsgetrennte Realitäten, in denen keiner den Teufel braucht. Nur das gestattet den Unglauben."

So weit die Fußnote. Mythologie, Wissenschaft, Aufklärung und Religion, all dies in einer Rückblende auf die frühe Phase der Frankfurter Schule, gleichzeitig in einer Momentaufnahme von Intelligenz in der Diaspora, die quasi im Niemandsland ihre eigenen rettenden Fluchtpunkte und Horizonte kreiert. Kurz, eine für Alexander Kluge sehr typische Verdichtung, die man auch anhand einer anderen Fußnote illustrieren und konterkarieren könnte:

Ein Fluß mit Vergangenheit, die Pripjat in der Nähe von Tschernobyl, beschrieben im großen Kapitel Kann ein Gemeinwesen ICH sagen?, ist für den Autor Anlass zu einer gerade acht Zeilen langen Idylle. Jedoch, so der "Haupttext": Reibe man die vom mit Fettsäuren durchsetzten sumpfigen Wasser befeuchteten Hände, dann "quietscht es". Dazu die Fußnote: "Diese Fettsäuren sind gute Koagulatien für radioaktive Teilchen. Die entstandene Verbindung hält sie bis weit nach der Halbwertzeit im Lande." Darüber das Foto eines radioaktiv kontaminierten Hundes. Horror. "In unseren Zeiten", so Kluge im Vorwort, "wenden sich die Menetekel (z.B. Tschernobyl, der asymmetrische Krieg) nicht bloß an definierte Herrscher, sondern an uns alle. Ich habe den Eindruck, diese Botschaften enthalten viel Kleingedrucktes."

Das Kleingedruckte studieren: Dies ist natürlich nur eine von unzähligen Möglichkeiten, sich einen Weg durch die 950 Seiten der Lücke, die der Teufel läßt zu bahnen. Wie immer bei Kluge wird der Leser aufgefordert, zwanghafte Vollständigkeit zugunsten eines durchaus lustvollen Schmökerns beiseite zu halten und zwischen den Momentaufnahmen aus dem "Umfeld eines neuen Jahrhunderts" eigene Erfahrungen in ein Verhältnis zum Gelesenen zu bringen, zu jenem "neuen Jahrhundert", in dem sich Kluges Lust am Schreiben, wie der Autor und diesjährige Büchner-Preisträger erklärt, "neu entzündet" habe.

Lange Jahre schien Kluge über seiner Arbeit im und für das Fernsehen seine schriftstellerische Tätigkeit hintan gestellt zu haben (wenn man auch seine Interviews für dctp durchaus als Materialsammlung bzw. als literarische Interventionen "lesen" könnte). Im Jahr 2000 hatte er schließlich sein damaliges erzählerisches Gesamtwerk - Lernprozesse mit tödlichem Ausgang etwa oder Schlachtbeschreibung - zu einer Chronik der Gefühle kompiliert und um eine umfängliche Sammlung neuer Geschichten erweitert. 2001 hatte er Ähnliches mit der gemeinsamen Philosophie mit dem Soziologen und Politologen Oskar Negt unter dem Titel Der unterschätzte Mensch vollbracht.

Schon dort war zum Beispiel die Geschichte über das Flüsschen Pripjat gleichsam ein neu hinzu erfundenes Gelenk zwischen Öffentlichkeit und Erfahrung und Maßverhältnisse des Politischen. Und schon in Der unterschätzte Mensch hatte Kluge gemeinsam mit Negt "Suchbegriffe" wie "Arbeit", "Oper", "Krieg", "Gemeinwesen" dialogisch abgeklopft, in der Hoffnung, die versprengten Trümmer, die so sichtbar würden, könnten irgendwann wieder zu einer neuen Chronik montiert werden. Tatsächlich findet man jetzt wieder Texte, die rund um Immanuel Kants Diktum über "Aufklärung" als Ausgang aus "selbst verschuldeter Unmündigkeit" kreisen. Bellinis Norma prallt über Maria Callas hinweg auf die Tragödie von Onassis' Erbin. Und einmal mehr kreisen "Schatzsucher-Geschichten" rund um die Frage "Macht Unglück produktiv?". Einmal mehr beschäftigt sich Kluge mit der "natürlichen Akkumulation" und den zivilisatorischen Druck, den Kriege und Katastrophen auf Gemeinwesen ausüben.

Es hieße ein völlig falsches Bild von Kluges Werk zu vermitteln, würde man unter Einbeziehung solcher Hintergründe nicht auch darauf hinweisen, wie lesbar Die Lücke, die der Teufel läßt tatsächlich ist. In neun großen Kapitelblöcken - darunter U-Boot-Geschichten, Feuerwehrgeschichten, "Was heißt Macht? Wem kann man trauen?" - versammelt der Dichter rund 500 Geschichten, in denen sich 9/11, Tschernobyl oder Paris 1940 gegenseitig bestrahlen, ausleuchten, erhellen. "Wach sind nur die Geister": Benjamin geistert ebenso beständig durch dieses Buch wie Robinson Crusoe oder ganze Armeen überflüssig gewordener Ingenieure, Offiziere, Denker, an deren beschränktem Handlungsspielraum man ablesen könnte, wie sehr rettende Intelligenz in den Weltläuften an den Rand gedrängt wird - und wie subversiv
dauerhaft sie gleichzeitig wirksam, virulent bleibt.

"Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen" - schrieben mit verwandtem Erkenntnisinteresse Max Horkheimer und Kluges früher Mentor Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung, einem der weiteren wesentlichen "Basislager" für die Land(und See-)vermessungen Alexander Kluges - sowohl als Metaphernfundus wie auch als Haltungsvorgabe in der Hingabe zum Fragmentarischen, Dialogischen.

Horkheimers und Adornos Ausführungen über Odysseus und die Verbindungen von Mythos und Aufklärung waren bereits in Geschichte und Eigensinn ein wiederholt befragter Text. Odysseus, wie er einerseits in seinem Erkenntnisinteresse sich auf der Fahrt an den Sirenen vorbei an den Mast fesseln läßt, um einer Versuchung zu widerstehen und wie er andererseits zu seiner festgefügten Liegestatt daheim in Ithaka zurückstrebt: In dieser Dialektik sind viele Protagonisten Kluges zerrissen und aufgehoben zugleich - zwischen einer verzögerten Heimkehr und einem verlässlichen Fundament, einem "molligen Lager", einer "Trostgeschichte zum Thema Aufklärung".

Wie schrieben Horkheimer und Adorno über Homer: "Erst als Roman geht das Epos ins Märchen über." Über Die Lücke, die der Teufel läßt ließe sich nun sagen: Im Rückgriff auf eine Montage von Fragmenten, einer durchwegs glaubwürdigen Balance zwischen Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten ist die zeitgenössische deutsche Literatur mit Kluge endlich einmal wieder angelangt, wo sie frei nach den Gebrüdern Grimm und ihren Märchen- und Sagensammlungen Erfahrungswerte häufen und und auf einen wahren Kern hin überprüfen kann. Man darf von einem Volksbuch sprechen, einem Buch für ein besseres Volk, das der Intelligenz größere Spielräume gewährt. Laut Kluge werden wir sie zum Fortbestand der Menschheit brauchen.

Einer der vielleicht schönsten Berichte - Lesbarkeit von Zeichen - handelt von einem Graphiker in Lemberg, der sich seit Jahren mit einem pikanten Problem herum schlägt, einem "Entwurf symbolischer Zeichen, die (rund um Tschernobyl) noch in 6.000 Jahren einem Intelligenzwesen TÖDLICHE GEFAHR signalisieren. Es wird angenommen, dass der Adressat keine der heute gesprochenen Sprachen beherrscht. Er liest auch keine kyrillische Schrift. Die Zeichen müssen, auch bei Beschädigung oder Verwitterung ein eindeutiges Signal wiedergeben. Zu berücksichtigen ist die kulturelle Umformung, in Zukunft beschleunigt, aus hässlich wird schön, aus Schrecken Attraktion, aus gut böse. Unter diesen Voraussetzungen ist Eindeutigkeit gefordert." Dass diese Eindeutigkeit kaum jemals herstellbar ist, ergibt bei Kluge die signifikant vielstimmige Form. Vielleicht läßt sich der Teufel ja mit Disharmonien bannen.