Die Wiederkehr des Immeralten

Von Manfred Schneider | Quelle BÜCHER DES MONATS / "LITERATUREN", Dezember 2000 | | Rezensionen

Wie sich aus dem Erzählen kleiner Episoden eine hysterische Geschichtsphilosophie entwickeln kann

Beinahe wären sich Adolf Hitler und Martin Heidegger 1933 in Leipzig begegnet. Heidegger war auf dem Weg zum deutschen Philosophentag, wo er mit seiner "Berufung zum Leiter der Führer-Lehrbegleitstaffel" rechnete. Hitler wollte in den Zug nach Berchtesgaden. Aber "eine Verkettung kleinster Ursachen verkürzte den Aufenthalt Hitlers in Leipzig und verhinderte die Begegnung ... So wurde die einzige und letzte Chance im Abendland, daß Philosophie in einen unmittelbaren Vortrags- und Besorgensraum zur Macht im Reiche tritt, versäumt."

Diese Geschichte liest man unter der Rubrik "Verfallserscheinungen der Macht" im ersten der beiden Bände "Chronik der Gefühle", die Alexander Kluges alte und neue Geschichten versammeln. Es sind Geschichten anstelle einer Geschichtsphilosophie, nämlich denkbare und undenkbare Geschichten, wahre und erfundene, gemischt erfundene und gemischt wahre, die ein Stenogramm der Weltgeschichte zeichnen. Die Geschichte von Hitler und Heidegger ist eine gemischt wahre. Solche gemischt wahren Geschichten ziehen am Zeitrand der Vergangenheit einen zweiten Horizont von verpaßten Möglichkeiten auf. Ist das Wirkliche gemeinhin das ernüchternde Ende des Möglichen, so ist das nicht zum Zuge gekommene Mögliche häufig des Komischen Anfang.

Es gibt zwei Arten von Geschichtsphilosophie: Die eine ist paranoisch und erblickt in der Weltgeschichte überall Verschwörungen zum Guten oder Bösen. Die andere Philosophie hingegen ist hysterisch und stößt in der Vergangenheit nur auf die "schauerliche Herrschaft des Unsinns und Zufalls", wie Nietzsche sagte. Angesehene paranoische Philosophien sind Hegels Verschwörung der Vernunft oder Marx' Verschwörung des Kapitals oder Heideggers Verschwörung gegen das "Seyn" . Zufallslehren sind weniger prominent: Man kann außer an Schopenhauer und Nietzsche an Darwin oder an die Systemtheorie denken.

Wurzeln in Stalingrad

Für die Geschichte der Zufälle, zumal für die unmögliche Wissenschaft der Katastrophen, ist die Literatur zuständig. Man denke an Boccaccio, der das Erzählen im "Decamerone" aus der Pest hervorgehen ließ, oder an Goethe, der in seinen "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" eine Erzählgesellschaft am Rande der Französischen Revolution versammelte, oder an Kleist, der im "Robert Guiskard" -Fragment auf den Krieg auch noch die Pest türmte. Natürlich gibt es auch Paranoiker in der Literatur - das sind dann nur wenige Köpfe zählende Verschwörergesellschaften, die sich gegen die bösen Mächte der Geschichte auflehnen, kleine Rütliclubs wie der Kreis um Stefan George oder die Gruppe 47. Aber das Erzählen ist einfach die Domäne der Skepsis, des Zufalls, der Kontingenz, der Katastrophe und darum des Humors oder der Ironie.

Alexander Kluge, dessen Erzählen buchstäblich in der Katastrophe von Stalingrad wurzelt, ist einer der ganz großen, beinahe schon entrückten Vertreter der Zufallsironie. Die zwei dicken Bände seiner gesammelten Geschichten erzählen eine wundersame, aus hunderten von schicksalskatastrophischen Kleinepisoden montierte hysterische Geschichtsphilosophie. Das Unbewußte dieser Philosophie Kluges, dieser Erzählphilosophie und dieser literarischen Winkelreligion des Zufalls, steuern weder der Geist noch die Vernunft noch Geist- oder Vernunftdoubletten wie Evolution oder Globalisierung. Das Unbewußte dieser Philosophie sind die Gefühle. "Chronik der Gefühle" heißt Alexander Kluges Arrangement komischer und katastrophischer Ereignispunkte in der alten und der neuesten Weltgeschichte. Seine unmerklich feine Umschreibung eines Hegelwortes aus der "Enzyklopädie" nennt den Raum (und damit auch die Zeit) das "unterschiedslose Auseinander der Punktmannigfaltigkeit".

Was läßt sich aus der Unendlichkeit des Raumes und der Unendlichkeit der Zeit greifen? Es sind Momente, Punkte, Intensitäten, in deren Abgründen Gefühle strömen. Wir sind mit der Rede über Gefühle heute sehr zurückhaltend. Die Gefühle kommen bei uns eigentlich nicht mehr vor - außer in der Popkultur, in der Oper, in Frauenzeitschriften und im Hollywoodkino. Die "Chronik der Gefühle" ist aber kein Erzählen von Herzenssachen, von Tränendingen, sondern von Ereignissen, Episoden, von fait divers, deren Herzschlag nur der Leser verspürt. Die wieder versammelten, erweiterten, neu komponierten Texte (Kluge ist gelernter Kirchenmusiker) heißen im ersten Band "Basisgeschichten" und im zweiten Band "Lebensläufe". Beide bilden ein unerhörtes Fundamentalerzählwerk. Es enthält eine eindrucksvolle Datensammlung über Liebe, Leben und Tod. Und so, wie das 18. Jahrhundert mit Staunen lernte, daß in den Tafeln der Geburten und Sterbefälle eine geheime Regelmäßigkeit, der in die Zufälle geschriebene Wille Gottes waltet, so waltet in den Zufallsgeschichten Kluges ein ganz anderes metaphysisches Kontinuum: eine in der Tiefe wirksame Strömung des Eigensinns, der Unbeirrbarkeit, ein - mit Kluge zu sprechen - "subdominantes Bewußtsein".

Ein solches Bewußtsein sprach aus Grabbes Napoleon nach dem Sturz 1815, als er sagte: "Wir werden aus der Welt nicht fallen." Wir stürzen nicht ins Nichts. Man erinnert sich an Kluges Film "Die Macht der Gefühle": Gefühle bilden den Unterstrom und das Widerlager der Macht. Solche Gefühlsquanten, die im Tiefengrund der Geschichte operieren, lassen sich nur an den Oberflächen der Ereignisse erfassen. Die Sache scheint arg kopflastig zu sein. Doch stoßen wir in Kluges Geschichten auch auf anschauliche Beispiele und Theorien über solche Gefühlsenergien.

Monströse Zwillinge

Immer wieder taucht in den beiden Bänden der "Chronik der Gefühle" Heiner Müller auf, mit dem Kluge eine Vielzahl von Gesprächen vor allem im TV geführt hat. Ein Katastrophiker vom Schlage Müllers und ein Zufallsironiker vom Schlage Kluges - das ist eine Konstellation, in der ein Geisterdialog wiederauflebt wie im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. So scheint alles Wichtige, was geschieht, eine Art von Wiederkehr. Denn wenn wir die Zeit, die Chronik der Ereignisse und Gefühle, ohne die Hermeneutik von Verschwörungsideen durchgehen, ohne Hoffnung und ohne Spekulation, dann erscheint uns alles wie ein ewiger Reigen von Wiederaufnahmen und Reprisen. Das ist das Arrangement des Erzählers Kluge: Über Jahrhunderte und Jahrzehnte hinweg bilden Katastrophen und fait divers monströse Zwillingsverwandtschaften aus.

Aber natürlich ist Kluges narrativ Quantenphysik keine Erzählweise, die ausschließlich die großen Haupt- und Staatsaktionen beobachtet. Auch große Ereignisse sind Energiepunkthaufen aus kleinen Episoden, die ins Auge fallen. Beispielhaft hierfür ist die kurze Erzählung von Antoine Billot, der durch eine lebenslange Serie von Unglücken ging und immer davonkam: Billot, ein moderner Bruder Candides, überlebte eine Überschwemmung, das Überfahrenwerden durch einen Zug, den Einsturz einer Betondecke, den Hinauswurf aus einem Flugzeug, die Verwundung durch eine Maschinengewehrsalve und eine Panik in einem Stadion. Alle Kleinkatastrophen bewahrten ihn jeweils vor größeren Gefahren und Risiken, und darum schließt die Geschichte: "Der Mann war dankbar." Hatte die Vorsehung ihn gequält oder bevorzugt? Diese Episode steht im zweiten Band "Lebensläufe" unter der Rubrik "Der lange Marsch des Urvertrauens". Da Urvertrauen, eine lemminghafte Mitgift der Menschen, ist eine dieser Überlebenskräfte die die Napoleons und die Billots in der Welt halten. Man könnte meinen, daß Kluges Geschichten selbst von solchen Kräften getragen werden, einem subdominanten Vertrat en. Sie sind eher hysterisch, nämlich von Gefühlen getragen, als paranoisch. Die Paranoia ist ist zwar vernünftig, aber leider, wie Kant sagt, treibt sie eine "rasende Vernunft".

Nicht nur in der Welt wiederholt sich alles, gehen Ereignisse und Kriege, Katastrophen und Gefühle, das Erhabene und Lächerliche durch Schleifen und Wiederholungen - Kluges beide Bücher bescheren dem Leser selbst solche Déjà-vu-Erlebnisse. Den nicht alles ist neu darin, das meiste ist uns vielmehr bekannt, zum Teil schon lange, wie große Partien der "Schlachtbeschreibung", der "Lebensläufe" oder der "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang". Anders als die zumeist zusammen mit Oskar Negt verfaßten Bücher mit ihrer ausufernden Didaktik und fettgedruckten Augenqual, schlagen wir diese Geschichten frisch auf und finden an ihnen keinen Anhauch von Patina. Sie habe seit den Anfängen der sechziger Jahre, als die "Lebensläufe" erschienen, mit der einzigartig traurigen, zu den Bewohnern unserer Urvergeßlichkeit zählenden Anita G., so manche Krise überlebt, die Krise der Literat die Krise des Romans, die Krise des Erzählens, die Krise der großen Erzählungen. Was ist das Geheimnis dieser Frische, mit der alle Literatur-Uhren beschämenden Halbwertzeit? Es ist ein Erzählen ohne Didaktik, ein Erzählen, das mit den imaginären Operationen des Lesers rechnet. Denn auch jeder Leser gehört zu einer der beiden Gruppen, zu den Paranoikern oder den Hysterikern. Die Paranoiker sind zumeist Germanisten und interpretieren; die Hysteriker sind eher Frauen, die lachen, weinen und genießen. Aber eine Sprache, die beiden Leseweisen etwas gibt, muß einen Zug von Unsterblichkeit haben. Der besteht aus Kürze und Detailreichtum.

Es gibt in Kluges Erzählungen manche poetologischen Bemerkungen. Die beste und handfesteste aber findet man in einem Kapitel der "Schlachtbeschreibung", wo die "Sprache der höheren Führung" untersucht wird. Die "Schlachtbeschreibung" operiert ersichtlich sprachlich und militärisch wie das, was sie beschreibt: "Die Offiziere aus der Schule des Grafen Schlieffen lernten die gedankliche Feinarbeit, die notwendig ist, um den Feind zu schlagen, beim Abfassen von Texten, denn wie hier, so war im Großen die einfachere, kürzere, schlagendere Maßnahme durchschlagend."

Die Musik vor dem Gefühl

Die Katastrophengeschichten und die Gefühlsgeschichten sind das Paradefeld der Oper. Kluges Erzählungen sind durchzogen von Opernerregungen und Opernmusik. Lange vor den Gefühlen, meint Kluge, gab es die Bewegung von Farben und Atomen. Dann kam die Eiszeit, so lautet seine Entstehungsgeschichte der Gefühle: "Als es auf dem blauen Planeten sehr kalt wurde, dachten wir oft sehnsüchtig an die Urmeere von 37 Grad Wärme. Wir lernten Gefühle zu haben, nämlich zu sagen: zu heiß, zu kalt." Auf der Menschenhaut wuchsen die Skalen und Register der Empfindungen. Die Musik war also früher als die Gefühle, und die Oper ist vielleicht auch älter als die Katastrophen. Kluges Katastrophengeschichten mit ihrem zweiten imaginären Horizont aus möglichen Wirklichkeiten spielen auch mit dem Gedanken einer möglichen Musik. Denn Kluge hat den Verfasser eines imaginären Opernführers erfunden. Dieser Mann, Xaver Holtzmann, möchte die achtzigtausend Werke der Operngeschichte um 700 weitere Opern ergänzen, da der "Erfahrungsgehalt unserer Zeit" im Schweigen steckengeblieben ist. Man kann sich das tatsächlich einbilden, daß es eine unerhörte Musik gibt, denen Zufälle, Küchenvorlieben, Komponistentode, Verliebtheiten, Hindernisse aller Art das Erscheinen im akustischen Raum blockiert hätten. Unerklungene Musik, unerhörte Geschichte: Die Begegnung Hitlers und Heideggers aus Kluges erzählten "Verfallserscheinungen der Macht" könnte man sich auch als komische Oper vorstellen.