Abstürze aus der Wirklichkeit

Von Michael Buselmeier | | Rezensionen

Alexander Kluge: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe

Der präzise Beobachter, Sammler und Denker Alexander Kluge schreibt keine Romane. Er trägt kleine Geschichten zusammen, die er auf der Rückseite der großen Geschichte vorfindet, Bruchstücke, die er ausgräbt und zum Sprechen bringt. Oft sind es nur Momentaufnahmen, Zeitungsmeldungen oder ironische Kommentare, lakonisch, aber nicht kühl, eher heiter und mit einer funkelnden Pointe aufs Papier gesetzt. Vor genau fünfzig Jahren hat Kluge mit dem Band Lebensläufe sein Debüt als Erzähler gegeben. Es folgten die zweibändige Chronik der Gefühle (2000), Die Lücke, die der Teufel läßt (2003) und Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006). Das vorliegende Fünfte Buch umfasst 402 neue Lebensläufe, die „teils erfunden, teils nicht erfunden sind.“

„Das Rumoren der verschluckten Welt“, „die Unverwüstlichkeit von menschlicher Arbeit“, „die unsichtbare Schrift der Vorfahren“ – so lauten einige der Themen, die diesen neuen Band mit seinen Vorgängern verbinden. Es ist immer ein intellektuelles Vergnügen, Kluges Beobachtungen, Reflexionen und Einfällen zu folgen. Doch der rasche Wechsel der Figuren, Gegenstände und Zeiten, ein Montage-Verfahren, das Sprunghaftigkeit und Diskontinuität voraussetzt, verlangt vom Leser Anstrengung und eine Beweglichkeit des Geistes, die heute nicht mehr jeder aufzubringen bereit ist. Wie haben wir uns in den siebziger Jahren, in der sogenannten Theoriephase der radikalen Linken, um schwierige Texte von Marx, Habermas, Herbert Marcuse, Adorno bemüht; Hegel und selbst Fichte, den kaum einer verstand, wurden studiert und natürlich auch Öffentlichkeit und Erfahrung von Oskar Negt und Alexander Kluge, eine Art Bibel aller Theoriefreaks und Spontis.

Wie eine Botschaft aus jenen Jahren kommt mir das Fünfte Buch Kluges entgegen. Es lässt sich nicht linear konsumieren, 564 Seiten lang. Technische und naturwissenschaftliche Vorkenntnisse (etwa über die Arbeitsweise des Hirns und das Funktionieren der Zellen) könnten hilfreich sein; historisches, literarisches und mythologisches Wissen, vor allem  Neugierde auf die Gegenwart werden geradezu verlangt. Auch skurrile Naturphänomene (ein bislang unbekannter Vorfahre der Wirbeltiere, bei dem „die Anfänge des Skeletts offenbar im Mund“ liegen) wollen begriffen und eingeordnet werden. Denn wir haben eine Splitterwelt vor uns, in der alle Sammelstücke auf verborgene Weise zusammenzuhängen scheinen.

Auch die eigene Biographie und Familiengeschichte hat Kluge in die neuen Lebensläufe eingeflochten, die vergessene Schrift der Vorfahren, eine bis in die napoleonische Ära, in den Südharz und das Eulengebirge zurückreichende Menschenkette, über deren Gene im eigenen Körper („eine Art Zauberbuch“) der Autor als Ahnenforscher nachdenkt. In diesen Geschichten stecken Teile einer durch Kinder-, Eltern- und Vorelternbilder beglaubigten Autobiographie.

Freunde und Lehrer gewinnen hier Raum, der Bildungsexperte Hellmut Becker etwa, dem der junge Jurist zuarbeitete, Heidegger 1962 mürrisch auf Griechenlandreise, allen voran Theodor W. Adorno, von dem zwei anrührende Briefe an den „lieben Axel“ abgedruckt sind, in denen es um „Herzenskälte“ geht. Kluge folgt diesem Motiv mit der Geschichte seines Vaters, der im Winter Löcher in den zugefrorenen Gartenteich schlug und Strohhalme hineinsteckte, um die Fische mit Sauerstoff zu versorgen. Zur „menschenfeindlichen Kälte“ zählen die noch wirksame Eiszeit, die stalinistischen Morde, Goebbels an den „Schalthebeln einer Kältemaschine“, auch Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ … Um mit solchen Kältewüsten umzugehen, sei - meint der Dialektiker - „eine hitzige Idee“ notwendig.

Oder die Macht der Liebe, der „Antirealismus des Gefühls“? In einer höchst seltsamen Szene wird berichtet, wie Adorno im umkämpften Frankfurter Wintersemester 1968/69 seinen Lehrstuhlvertreter, den 24 Jahre jüngeren Niklas Luhmann, der ein Seminar über „Liebe als Passion“ gibt, zum Abendessen einlädt und dabei um einen Rat in Liebesdingen bittet.

Zwischen gleichsam privaten und familiären Auftritten erhebt sich das Gebirge der Zeitgeschichte, der Weltkriege, scheiternden Revolutionen und Katastrophen: Das Atomunglück von Fukushima, das Bankhaus Lehman Brothers, der griechische Schuldenstaat. Kluge spricht von „Wendepunkten“, von „Abstürzen aus der Wirklichkeit“ und zeigt dazu das Foto des von der New Yorker Polizei abgeführten Dominique Strauss-Kahn, während der Körper Osama bin Ladens so zugerichtet wurde, dass man das „grässliche Bild“ nicht veröffentlichen konnte. Chinesische Ingenieure bauen in Bremen die Vulkanwerft ab. Die Suche nach „Zufluchtsorten einer künftigen Menschheit“ auf den Jupitermonden nimmt absurde Züge an.

Lauter Lernprozesse mit tödlichem Ausgang – so könnte man, Kluges erfolgreichen Buchtitel von 1973 zitierend, resümieren. Der gute Wille allein, sich Mühe geben, eigensinnig sein, reicht nicht aus. Das Unglück vollzieht sich hinter dem Rücken der Menschen, die im Alter lernen, sich zu fügen. Das fünfte Buch ist den vielen zugedacht, deren Träume von einer besseren Welt sich nicht erfüllt haben, die traumatisiert aus ihrer Bahn geworfen wurden. Der nunmehr achtzigjährige Geschichtenerzähler blickt ohne Zynismus, eher teilnahmsvoll auf ihre Lebenswege und zugleich auf sich selbst und das wissbegierige Kind, das noch in ihm steckt.

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