Was wissen die Bilder?

Quelle aus: Vom Nutzen ungelöster Probleme, S. 135 ff. | | Leseproben

PrimeTime, RTL, 14. Juli 2002

Kluge: Was interessiert Sie am Nichtwissen?

Baecker: Die Fähigkeit zum Nichtwissen scheint bei vielen Leuten Bedingung für Intelligenz zu sein. Ein Manager, der mit einem Mitarbeiter spricht und von vornherein weiß, zu weichem Verhalten er ihn anweisen will, wird nicht in der Lage sein, zu managen, weil er den Mitarbeiter und dessen Wahrnehmung der Situation nicht zu Wort kommen lässt. Er muss mit einem Nichtwissen in die Situation hineingehen und seine Einschätzung der Situation mit der Einschätzung derselben Situation durch den Mitarbeiter abgleichen, sonst bleibt ihre Interaktion steril. Ein Arzt, der sich an ein Krankenbett stellt und dem Patienten signalisiert, er wüsste bereits, was ihm fehlt, wird dem Patienten nicht helfen können, weil er nichts über ihn erfährt. Er muss ein bestimmtes Ausmaß an Nichtwissen zumindest simulieren, muss ihn befragen, muss ihm Gelegenheit geben, eigene Einschätzungen zu formulieren und in der Art und Weise der Formulierung dieser Einschätzungen bereits Teile des Problems zu erkennen geben. Das sind zwei für mich paradigmatische Situationen, die darauf hinweisen, dass Intelligenz ebensoviel mit Nichtwissen wie mit Wissen zu tun hat.

In Ihren Arbeiten wie schon bei Luhmann finde ich einen Satz, der mich immer wieder verblüfft. Psychische Systeme können nicht kommunizieren, sondern nur denken, sich etwas vorstellen und wahrnehmen. Und soziale Systeme können nicht wahrnehmen, sondern nur kommunizieren. Wenn Sie mir das mal erläutern.

Das ist eine der wichtigsten Grundentscheidungen innerhalb der soziologischen Systemtheorie, die etwas mit deren kognitionswissenschaftlichen Hintergründen und Absichten zu tun hat. Im Anschluss an neurophysiologische Einsichten, also gewonnen, wenn Sie so wollen, am unwahrscheinlichsten Fall, dem Gehirn, geht diese Theorie von der operationalen Geschlossenheit der Systeme aus, die sie beschreibt. Soziale Systeme sind geschlossen; sie reproduzieren sich mithilfe von Kommunikation und können die Kommunikation, die sie dazu brauchen, nur selber produzieren, also nicht aus der Umwelt einführen; ebensowenig können sie in die Umwelt hineinkommunizieren. Und auch psychische Systeme, die Bewusstseine, sind operational geschlossen; sie reproduzieren sich mithilfe von Wahrnehmungen und Vorstellungen, die sie selber produzieren müssen, also nicht aus der Umwelt einführen können.
Diese Theorieposition hat einige dramatische Konsequenzen. Sprache zum Beispiel ist ein sozialer Sachverhalt, entwickelt von der Kommunikation für die Kommunikation, und keine Operation des Bewusstseins. Husserl, der dies bereits zu bedenken versucht hat, sprach deswegen vom "einsamen Seelenleben" des Bewusstseins. Unser Reden ist etwas anderes als unser Denken. Die Vorstellung, unser Bewusstsein würde sich einen Satz ausdenken und diesen dann aussprechen, mag in alltäglichen Situationen hilfreich sein, funktioniert aber nur, weil wir den Prozess, in dem unsere Wahrnehmungen zustandekommen, ebenso wenig wahrnehmen wie den Prozess, in dem eine Kommunikation zustandekommt. Wir können die Sprache, der wir kommunikativ ausgesetzt sind, aufgreifen, um mit ihrer Hilfe Struktur in unser Denken zu bekommen, aber damit importieren wir Formen der Kommunikation, die dem Bewusstsein grundsätzlich fremd sind. Umgekehrt jedoch bedeutet dies, dass unsere Bewusstseinsleistungen, unsere Wahrnehmungen, also unser Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Tasten, mithilfe unseres Körpers in unserem Bewusstsein und nur dort zustandekommen. All dies ist der Kommunikation unzugänglich, die schon deswegen auf Bewusstsein in ihrer Umwelt angewiesen bleibt (und von Computern träumt, um vielleicht etwas unabhängiger zu werden). Das soziale System der Kommunikation hat keine Ohren, keine Augen, keinen Tastsinn. Es kann nur kommunizieren.

Ich kann meinen Schmerz im Grunde genommen niemandem mitteilen?

Sie können nur darüber reden, dass Sie Schmerzen haben. Sie können Schmerzen zeigen, müssen dazu jedoch auf ein kulturell sehr fein geregeltes Ausdrucksrepertoire zurückgreifen.

Ich kann den Verdacht erregen, ich sei Hypochonder, ich bilde mir meine Schmerzen nur ein. Aber der Schmerz ist nicht kommunizierbar.

In einer Situation des Misstrauens muss ich den Arzt fragen, ob meine Ehefrau die von ihr behaupteten Schmerzen tatsächlich haben kann.

Das kann man sich gar nicht genug vorstellen. Insofern ist ein psychisches System wie eine Monade gebaut, blind nach außen und kann nur sich selbst verstehen. Mit sich selbst kann ein psychisches System reden?

Das Bewusstsein kann eine Kommunikation mit sich selbst simulieren, weil es ja über Kommunikation qua Wahrnehmung informiert ist. Ich kann mich ansprechen, mir etwas zurufen, mich auffordern innezuhalten oder weiterzumachen. Aber das sind dann jeweils nur Momente einer Kommunikation simulierenden Distinktheit, die sich schnell wieder in die Einheit des für sich authentischen Bewusstseins auflösen.

Was nennen Sie ein psychisches System? Das ist nicht nur die Seele, sondern auch das, was die Körperhaut umfaßt und noch einiges unmittelbar außerhalb der Haut?

Das psychische System ist das System, über das der Psychologe glaubt, etwas sagen zu können. Der Soziologe kann sich darüber nur wundern, denn er sieht den Psychologen eine Sprache entwickeln, in der er behauptet, etwas über psychische Sachverhalte aussagen zu können, die nicht sprachlich verfasst sind und auch nicht mitreden, um sich mit ihrer Beschreibung einverstanden zu erklären, sie abzulehnen oder vielleicht zu modifizieren. Er konzediert dem Psychologen im Konzert der Wissenschaften, dass dieser weiß, was er tut. Der Soziologe hat jedoch nur in einem einzigen Fall Zugang zu einem Bewusstsein, nämlich in seinem eigenen. In diesem Fall sieht er das Scheitern, das Nichtverstandenwerden der Sätze und hat keinen Grund, in anderen Fällen wundersamerweise mehr Verständnis annehmen zu müssen. Er geht von der Differenz zwischen Kommunikation und Bewusstsein aus und beobachtet dann zum Beispiel Dichter, die über nichtkommunizierbare Gefühle der Liebe, des Schreckens, der Todessehnsucht poetische Aussagen treffen und so deren Nichtkommunizierbarkeit ? und damit doch irgendwie diese Gefühle? ? kommunizieren.

Berichte über etwas, das misslingt.

Es kann durchaus auch etwas Gelingendes sein, der Moment einer erwiderten Liebe, von der ich jedoch weiß, dass ich eine poetische Formel brauche, um sie auszudrücken, weil ich andernfalls die Differenz meines Bewusstseins, die ja hier die eigentliche Botschaft ist (selbst wenn es um Einverständnis geht), nicht mitkommunizieren könnte. Ich teile dir mit, dass ich dir nicht mitteilen kann, was ich dir mitteilen möchte: Kommunikation des Nichtkommunizierbaren, für die man vielfache, das Problem offenlegende, fruchtbar machende und zugleich wieder verbergende Umwege braucht.

Die psychischen Ereignisse im Bewusstsein Rilkes, Goethe oder Kafkas sind nicht identisch mit dem, was sie sprachlich schreiben und was wir jetzt lesen?

So würde ich sagen. Und genau das kann man lesen und a lesendes Bewusstsein genießen.

Sie können ihre Vorstellungen wahrnehmen und als Texte, mitteilen, so weit immerhin reicht es?

Ja.

Und jetzt, warum sagen Sie, dass soziale Systeme nicht wahrnehmen können?

Es fehlen ihnen dazu die passenden Organe, also jene Nervenenden, mit deren Hilfe ein Bewusstsein sich seine Vorstellungen fabriziert. Soziale Systeme können nur Gerede an Gerede anschließen, was nicht minder wirklich ist.

Also wir, das Volk, können nicht sehen?

Das "Volk" ist einer jener wunderbaren Konfusionsbegriffe, denen Körperlichkeit, Bewusstseinszustände und soziale Zustände in eins gefasst werden. Ein solcher Begriff verzichtet auf die scharfen Unterscheidungen von Systemreferenzen, zu denen die neuere Systemtheorie auffordert und kommt damit in die bekannten Bredouillen verschiedener Ideologien.

Wenn die 6. Armee nach Stalingrad vordringt, müsste man dann eigentlich davon sprechen, dass die 6. Armee nichts sieht, auch nichts spürt, im technischen Sinne auch nicht marschiert, sondern es sich um einzelne Soldaten handelt, die etwas sehen und spüren und die marschieren?

Das soziale System marschiert nicht.

Dennoch hat es als soziales System seine Wirklichkeit, denn solange es ein soziales System ist, kann es allmählich und verzweifelt zusammenbrechen und nach einem Ausweg suchen. Es ist ein Sammelsurium von Dingen, Vorschriften, vorangegangenem Tun und gegenwärtigem Tun, das aber in hohem Maße befähigt ist und Blitzkriege gewinnt, die kein Einzelner gewinnen kann?

Das soziale System ist darauf angewiesen, dass die Körper und Bewusstseine mitmachen und vielfältige Initiative zeigen. Es muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass einzelne Bewusstseine den Sinn des Ganzen an bestimmten Stellen nicht mehr einsehen und muss dann versuchen, irritierende Kommunikation zu lancieren, die zum Beispiel darauf hinauslaufen zu sagen, dass der Punkt erreicht sei, an dem man sich nur noch dem Feind ergeben könne.

Deswegen Kommunikation? Ich muss drei Mal am Tag an der Goulaschkanone Nahrung zu mir nehmen, nicht weit die Nahrung mein körperliches Überleben sichert, sondern weil ich kommunizieren muss?

Damit Information ausgetauscht wird.

Weil ich darüber reden muss. Ohne Gerede kein Krieg. Ohne Wartezeiten kein Krieg.

Der italienische Organisationssoziologe Giovan Francesco Lanzara hat das in einem Aufsatz über "ephemeral organizations in extreme environments" (Journal of Management Studies Bd. 20,1983) am Beispiel der Erdbebenhilfe in Süditalien beschrieben und Luhmann hat das sehr begeistert aufgegriffen: Die erste Hilfsmaßnahme, die ergriffen wird, ist die Einrichtung einer Kaffeebude. Warum? Weil man damit den Ort hat, an dem die erforderlichen Informationen ausgetauscht werden können. Das Auftauchen der Armee, von der Regierung geschickt, bleibt ohne Wirkung. Erst die Kaffeebude erlaubt es, die Hilfsmaßnahmen zu koordinieren. Ein schönes Beispiel für die subtilen und jeweils hochgradig lokalen Möglichkeiten, Selbstorganisation zu stimulieren.

So rettet man ein soziales System?

Wobei der Mann, der seinen Espressostand aufbaut, angesichts der vielen potentiellen Kunden womöglich nur an sein Geschäft denkt.

Er stellte wieder Selbstbewusstsein her?

Im eigenen Interesse und ohne es zu wissen, ja.

Bei Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, heißt es, Sie verweisen darauf, dass "die Form denkt". Er bezieht das auf Bilder und spricht ihnen, wie kleinen Automaten, ein Eigenleben zu, eine Autonomie.

Mir ging es hier um die Frage, was die Bilder wissen. Was wissen die Bilder über das nächste Bild, was weiß jede einzelne Einstellung eines Films über die nächste Einstellung, die nur möglich ist, wenn zuvor dies oder jenes gezeigt worden ist? Godard ist ein scharfer Denker, im präzisen Sinne des Wortes, der bei jedem Bild, das er aufnimmt, fragt, welches Bild wohl als nächstes erwartet wird und wie er eine Bildsequenz fabrizieren kann, die diese Erwartung strapaziert und eine neue an ihre Stelle treten lässt, für die unter Umständen dasselbe gilt. "Die Form denkt', heißt hier, dass die Form, die sich ja nur bilderübergreifend einstellt, einen Zusammenhang herstellt, der aus der Trennung der Bilder, aus ihrer Herauslösung aus dem Zusammenhang, entsteht.

Man weiß, dass Godard dies einerseits bewusst tut, andererseits aleatorisch, würfelnd. Er probiert etwas aus, akzeptiert jedoch auch Willkür. Er stellt unvereinbare Bilder neben einander in der Hoffnung, dass aus der Lücke zwischen ihnen Sinn entsteht.

Ich stelle mir vor, dass Godard und andere, die ähnlich vorgehen, immer etwas erschrecken, wenn sie feststellen, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, wirklich Unvereinbares nebeneinander zu stellen. Kaum steht es nebeneinander, ist es bereits miteinander vereinbar.

Weil man alte Bilder schon einmal gesehen hat, weit es einen festen Vorrat an Bildern gibt, von denen wir ausgehen, weil es nichts Neues im Film zu photographieren gibt, meinen Sie das so?

Wenn ich versuche, von einem Bild zum nächsten zu springen, halte ich entweder beim Gedanken inne, wie schön oder gelungen das gerade gefundene Bild ist, oder stelle mir tausend andere Bilder vor, zu denen ich jetzt springen könnte. Und dennoch ist das nächste Bild ein bestimmtes Bild und keines von den neunhundertneunundneunzig anderen. Jedes Bild zitiert ein anderes Bild, das sich gleich als nächstes Bild durchsetzt, weil es sich gleichsam fordert: Nun zeige aber auch, dass aus Blau Grün werden kann, dass eine schöne Frau auch traurig sein kann, dass eine schnelle Bewegung zur Ruhe kommen kann und so weiter. So steht jedes Bild mit jedem anderem trotz und wegen der Überfülle an Möglichkeiten in einem gewissen Zitations als Forderungszusammenhang.

Können Sie mir eine Szene beschreiben, die auf Sie in einem Film einmal einen starken Eindruck gemacht hat?

Im Film "The Night of the Hunter" von Charles Laughton aus dem Jahr 1955 spielt Robert Mitchum einen bösen Prediger, der zwei Kindern Angst macht, indem er auf bedrohliche Art und Weise ein Kinderlied singend an einem Gartenzaun entlang reitet. Das wird scherenschnittartig gezeigt. Die Kinder im Haus beobachten ihn und fürchten sich. Für mich ist das ein Bild oder besser eine Szene, die ganz und gar für sich stehen könnte. Diese Szene ist der Film, hier wird (vielleicht höchst anspielungsreich) nichts zitiert, man braucht den restlichen Teil des Films nicht, obwohl es in ihm noch wunderbare andere Szenen gibt.

Was berührt dieses Bild in Ihnen?

Wenn ich das wüsste, wäre die Faszination vielleicht schon nicht mehr da. Es hat etwas mit der Relation von Figur und Hintergrund zu tun. Robert Mitchum agiert im Hintergrund, die Kinder ebenfalls, im Vordergrund gibt es nur das Lied.

Also nicht ein Bild?

Ein akustischer Eindruck, der Vordergrund und Hintergrund verbindet und Unvereinbares überbrückt. Ein Kinderlied, hintergründig gesungen.

Bilder sind unter Umständen gar nicht Bilder?

Bildern eignet etwas Synästhetisches, sie bringen sinnliche Eindrücke verschiedener Art zusammen, taktile, optische und akustische, einen Geschmack und einen Geruch. Vielleicht gibt es sogar Bilder, die besonders gut riechen...

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