Authentische Texte sind klüger als ihre Autoren

Quelle aus: Verdeckte Ermittlung, 3. Kapitel S. 37 ff. | | Leseproben

Womit schreiben Sie?

Ich schreibe mit einem weichen Bleistift, immer schon, denn das hat im Gegensatz zu einem Füllfederhalter oder einem Kuli die nötige Unbestimmtheit. Mit dem Bleistift schreibe ich in Cahiers, in Hefte.

Radieren Sie, ich sehe da oben ein Radiergummi am Bleistift?


Ich radiere zwar nie, aber ich habe die Möglichkeit zu radieren. Ich würde ausstreichen und etwas anderes hinschreiben.

Und so entstehen jetzt Hefte. Der Band UNHEIMLICHKEIT DER ZEIT gliedert sich zum Beispiel in die "Hefte 1-18". Sind dies tatsächlich 18 Hefte?

Das kann man so sagen. Es sind möglicherweise ein paar mehr Hefte, weil es auch Hilfshefte gibt, oder es werden mehrere Hefte zu einem Heft zusammen-gerechnet. Da ist eine kleine Willkür darin, denn in Anlehnung an dieses ersten drei sind Alltagsgeschichten, die Wort Cahiers bei Proust, was mir immer sehr imponiert hat, folge ich da der Einbildung, daß das Hefte sind.

Die hier angesprochene Folge von Geschichten in Band 1, S. 928-950. Die Titel der Geschichten ab S. 944 lauten: "Die Kunst der Vernunft", "Ist Hilde unvernünftig?", "Moralischer Kannibalismus", "Aggressive Bewirtung", "Rechtsblind". Die letzen beiden historisch. In allen aber geht es um die mangelhafte Beziehung, die Fremdheit von Vernunft und Trieb oder, als Folge davon, um fragwürdige Vermischungen, in denen Triebe plötzlich kalt rational arbeiten oder Vernunftkräfte sich triebhaft gebärden.

Aber Sie veröffentlichen die Geschichten nicht in der Reihenfolge, wie sie in den Heften stehen?

Manchmal ja, manchmal nein. SCHLACHTBESCHREIBUNG ist kontinuierlich geschrieben in Heften. Es gibt auch andere Geschichten, bei denen - wie bei einem Domino - immer der letzte Satz oder die letzte Metapher der alten Geschichte der Anfang der neuen ist. Die sind hintereinander weggeschrieben, da gibt es keine Montagen. Wenn z.B. das Thema Vernunft, Gier der Vernunft, Trägheit der Gefühle, Moralismus, moralischer Kannibalismus, Rechtsblindheit auftaucht, dann können Sie an einer solchen Folge erkennen, daß sie hintereinander weggeschrieben ist, weil immer der Bezugspunkt der folgenden Geschichte in der ersten bereits enthalten ist.

Wie ist es zum Beispiel bei den folgenden beiden Texten, die auch zusammengestellt sind im ersten Kapitel: "Götterdämmerung in Wien"; das ist Heiner Müller gewidmet, er kommt selbst nicht darin vor, aber ein Motto von ihm. Dann folgt eine Geschichte mit den letzten Gedanken Reiner Müllers zum Theater.

Ja, und davor Luigi Nono und Reiner Müller, "Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen", ein Opernprojekt, das sie einmal hatten, ein Musiktheaterprojekt muß man sagen, bei dem die Authentizität eine große Rolle spielt. Luigi Nono hat mir das wirklich erzählt, und auch Heiner Müller, den ich zu dem Zeitpunkt noch nicht kannte, hat das später, aus seinem Interesse heraus, bestätigt. Er hat mit Luigi Nono eng zusammengearbeitet und einen Text für ihn geschrieben. Die Sänger sind Rohstoff, eine eigentümliche Züchtung des Musiktheaters, in dem man diese Riesenstimmen entwickelt, eine kulturelle Sonderzüchtung, ein Menschenpark im Sinne der Kunst. Aus dem "Singenden Laien" von Richard Wagner wird da eine Konkurrenz zum Belcanto entwickelt, der sich wiederum doch aus einer ganz anderen, aber auch hochspezialisierten Tradition bis zu den drei Tenören entwickelt. Diese Sänger-Spezies, diese besonderen Arten, die jeder Marsianer als seltsame biologische Kreationen empfinden würde, die tragen Windeln. Wenn sie besonders starke Stellen singen müssen, besonders stimmstarke, bei denen sie die Luft im Bauch so versammeln wie große Dampfmaschinen, dann machen sie in die Hosen. Deswegen haben sie Windeln an. Das macht einen quatschenden, quietschenden, sirrenden Ton, der wiederum von Mikrophonen, eng am

Die Sequenz von Geschichten, die hier berührt wird, im ersten Kapitel "Der Eigentümer und seine Zeit", S. 56-76: "Heiner Müller und ,Die Gestalt des Arbeiters`", "Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen", "Lohengrin in Leningrad", "Die Götterdämmerung in Wien", "Heiner Müllers letzte Worte über die Funktion des Theaters". In den Großen Gesangsmaschinen ging es Müller und Nono offenbar darum, das was auf dem Weg der Hyperspezialisierung des Kunstgesangs ausgeschlossen wird, gewissermaßen die versteckten Kosten, die Kehrseite der "Gesangsmaschinen", wieder in die Kunst einzuführen und hörbar zu machen. In "Lohengrin in Leningrad" und "Götterdämmerung in Wien" geht es um die Existenz von Kunst oder Kunstobsession mitten in der Katastrophe. In Leningrad wird 1941, am Tag des deutschen Einmarsches nach Rußland, Wagner auf Deutsch aufgeführt und im Radio übertragen. Die Geschichte erzählt die Überlegungen unter russischen Künstlern und Politikern, die der Premiere des LOHENGRIN unter solchen Umständen vorausgehen. "Die Götterdämmerung in Wien" ist die Gegengeschichte: Baldur von Schirach befiehlt im März 1945 im belagerten Wien eine letzte Aufführung der GÖTTERDÄMMERUNG. Das Orchester muß sich nach Zerstörung des Opernhauses in Instrumentalgruppen in verschiedene Keller begeben, verbunden durch Feldtelefon. Teile dieser "Aufführung", die demonstrieren soll, daß die Musik bestehen bleibt, wenn auch das Reich untergeht, werden gefilmt und nach 1991 in Georgien wiederentdeckt. Mit Unterstützung der CAHIERS DU CINEMA aufgeführt, werden diese Dokumente posthum in das Werkverzeichnis Nonos aufgenommen. Denn nicht "was ein individueller Kopf" sich ausdenken kann, ist Kunst, sondern das Finden eines "Schatzes" mit solcher "Ausdruckskraft". - Es geht im Interview und in diesen Geschichten um die Frage, wie im 20. Jahrhundert Authentizität in der Kunst hergestellt werden kann.

Körper getragen, aufgenommen wird und als Raumton in den Studios von Luigi Nono in Freiburg bearbeitet werden kann mit anderen Seitengeräuschen, dem Krächzen, dem Zutun der Speiseröhre, während die Lungen wie Blasebälge atmen. Das sind ja ganze Körper, ganze Lebewesen, die da außermusikalisch Töne von sich geben. Was von den verzerrten Tönen im Dom von Venedig zu einem 64chörigen Musikstück wird, das war ein Idol von Heiner Müller und Luigi Nono gemeinsam. Genauso ergab sich in "Götterdämmerung in Wien" eine dekonstruktive Möglichkeit, Kunst darzustellen, im Sinne der Authentizität. Das was da übrig bleibt, auf diesem schrecklichen Film, abgelehnt von jeder Rundfunkanstalt, die würden das nie senden, das ist Kunst, das ist die Anstrengung des Artisten, wenn er Glück hatte zu überleben.

Könnten Sie sich auch vorstellen, mit dem Computer zu schreiben?


Kann ich mir vorstellen, aber nicht, daß ich selber auf dem Computer schreibe, denn die Geschichten entstehen anders. Sie entstehen aus der Spitze des Stiftes. Und da muß ich mich vollkommen konzentrieren, sozusagen unabgelenkt. Ich bilde das im Kopf ab, und die ersten Absätze werden nie etwas. Ich muß also einen gewissen Vorlauf haben, in dem ich mich einschreibe. Das dauert normalerweise gut drei Tage. Und dann kann ich am Stück schreiben, solange ich wach bin.

Brauchen Sie Stille, um konzentriert schreiben zu können?

Das ist nach einer Weile ganz egal. Ich kann mitten in einer Turbulenz schreiben, das ist mir egal. Ehrlich gesagt, wenn um mich herum viel passiert, ist es eher günstiger.

Aber es sind doch längere Perioden, die Sie brauchen, um Reihen von Geschichten zu schreiben?

Es sind längere Perioden. Das ist nicht ganz einheitlich. Es gibt z.B. Fälle, wo ich mitten im Tag Pause habe, wenn ich in einer Verhandlung bin, also eigentlich geschäftlich unterwegs bin. Oder es ist eine dramatische Sitzung, wo ich aber jetzt im Moment nicht eingreife, oder die Sache satt habe, dann schreibe ich Geschichten. Das geht komischerweise sofort. Sobald ich den Anfangston habe, geht es sofort. Dagegen wenn ich allein bin, unaufgeregt, dann brauche ich erstmal die Geschichten etwa so, wie man eine Zigarette raucht, eine Tasse Kaffee trinkt. Das nutzt aber alles nichts, sondern es muß die Geschichte selber eine gewisse Hysterie erzeugen, damit der Text von selber herausspult. Wenn ich dann nicht aufhöre und den Text durchziehe und immer die neuen Einfälle an den Rand schreibe, das ist dann schon die nächste Geschichte. Das könnte ich am Computer nicht. Wenn ich anfinge zu speichern, wären das zu viele Zwischenschritte. Wenn allerdings die Texte fertig sind, gibt es nochmal, aufgrund des Notierten, ein Diktat, in dem sich die Texte ändern, zum Teil relativ nachhaltig, und das wird anschließend in den Computer geschrieben und im Computer redigiert. Da ändern die Texte auch ihre Orte. Ich würde sagen, am Computer wird mit einer vollkommen anderen Arbeitsweise, als man Texte schreibt - und das ist heute eben möglich - genau verfolgt, wo ich den Text abbrechen muß. Die stehen ja fortlaufend in den Cahiers; am Computer kann ich entscheiden, wo etwas zu Ende erzählt ist, egal, ob das gut ist oder nicht, hier ist ein Ende, hier muß jetzt etwas anderes kommen, dies ist jetzt nicht weiter über-raschend. Auf diese Weise gibt es eine Art Anziehungskraft, eine Gravitation zwischen den Texten, und danach gruppieren sich die Kapitel um.

Könnten Sie das an einem Beispiel beschreiben?


Es gibt manche Kapitel, wie "Verfallserscheinungen der Macht", die haben von Anfang an dieselbe Form, die fangen an in der DDR, Nikolaus 1989, gehen dann über die DDR hinaus und stürzen, nach einer kurzen Berührung mit dem Zweiten Weltkrieg, ab bis hin zu Gilgamesch, 6000 Jahre vor Christus. Das ist für mich begründet durch Heiner Müller, denn das ist ein Interesse, das er mir durch seine Art zu fragen und sich damit zu beschäftigen, vorgeführt hat. Er geht ja mit Babylon oder mit Urzeiten, von Titus Andronicus rückwärts bis zu Gilgamesch, sehr freizügig um. Ich habe bei ihm eigentlich erst gelernt, erst seit 1988, was Autonomie der Texte bedeutet. Ich habe mir früher viel zu stark vorgestellt, daß ich verantwortlich sei für den Sinn dieser Texte, daß ich sozusagen der Hüter der Texte wäre. Er hat mir beigebracht, wir sind weder der Hirte noch der Hüter der Texte, sondern diese Texte sind frei und betrügen uns. Diese Texte sind Partisanenarmeen, und wir sind nicht dazu da, die Parade von Partisanen abzunehmen. Vertrauen wir uns doch den Texten an. Die Verantwortung liegt darin, daß man innerhalb der Texte konsequent ist, daß man sie zu Ende führt, daß man sie auf die Spitze treibt. Das Durchhaltevermögen, das darin steckt, ist viel wichtiger, als die Aufsicht, ob sie korrekt sind. Daß die Texte sich selbst organisieren, das ist ein Gedanke, den ich sowieso immer hatte. Sie gruppieren sich nach einer Weile, und die Fehler, die in den Texten stecken, helfen dabei, und bei jeder Berührung miteinander ändern sie eine Weile ihren Platz. Im großen und ganzen war zum Beispiel "Das veruntreute Fronttheater" früher ein Riesenkapitel, das gar nicht aufhörte und auch überhaupt nicht auf irgend etwas zielte, es war eigentlich das, was man eine Materialsammlung nennt. Das hat sich in drei Kapitel aufgelöst und außerdem sind sozusagen 30 Prozent der Geschichten gestrichen worden und weitere 20 Prozent in andere Kapitel gerückt. Was dann übrig war, verteilte sich in "Verwilderte Selbstbehauptung", Kapitel 6, in "Wie kann ich mich schützen? Was hält freiwillige Taten zusammen?", Kapitel 7 und in Kapitel 12 "Der lange Marsch des Urvertrauens". Damit hat es in meinen Augen nicht eine Ordnung, aber einen Zusammenhang. Da ist nichts mehr, was mich stört, was ich als unzusammenhängend empfinde. Ich kann mich natürlich auch irren, aber ich kann jetzt von einer Geschichte zur anderen gehen Land empfinde immer genügend Konsistenz, genügend Grund, aber wiederum nicht so viel Grund, daß es wie eine Kette oder wie eine klappernde mechanische Verbindung wirkt.

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