Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit

Regie: Alexander Kluge
Darsteller: Jutta Hoffmann, Armin Mueller-Stahl, Rosel Zech, Alfred Edel,
Peter Roggisch, Hans-Michael Rehberg, Edgar M. Böhlke, Rosemarie Fendel, Maria Slatinaru

Ein Episodenfilm, der "Abschied nimmt vom klassischen Kino" (A. Kluge). Splitter der Wirklichkeit, die aber doch allesamt streng den einen Gedanken verfolgen, wie ein einziger Augenblick alles Vorher und Nachher verschlingen kann. Da ist die Tochter eines Pförtnerehepaars in Warschau, die sich einem deutschen Soldaten hingibt, um die Schätze der polnischen Filmgeschichte zu retten.
Da ist eine schier Unentbehrliche, die plötzlich überflüssig geworden ist, weil der Chef ihr einen anderen vorgezogen hat.
Da sind Eilige, die rastlos durch die Welt hetzen, um Entscheidungen zu fällen, die immer weniger sinnvoll sind.
Da ist eine junge Leihmutter, die das Kind solange nicht zurückgeben will, wie die Erziehungsberechtigten nicht auf ihre Fürsorgeempfehlungen hören wollen.
Und da ist schließlich ein berühmter Regisseur, der bei Dreharbeiten erblindet und trotzdem weitermacht, weil er den Kopf voller Bilder hat.

Obwohl auch Alexander Kluge nicht ohne individuelle Personen auskommen kann, in diesem Film geht es nicht mehr um Einzelschicksale, sondern - so kurz vor dem Ende eines mörderischen Jahrhunderts, ja eines Jahrtausends - um das Schicksal der Menschheit. Die Individuen sind ihm dafür nurmehr der notwendige Beleg.

Die Hauptrolle aber spielt die Zeit, mit der diese Menschen umgehen müssen: die Zeit als Geschichte und als mitgeschleppte Vergangenheit, aber auch jene mangelnde Zeit, die den Menschen im Augenblick einer Entscheidung fehlt, um die Zukunft besser gestalten zu können. Darum, sagt Kluge, "halten die Menschen ihr Leben provisorisch: Die Gegenwart dehnt sich." Mißverhältnisse tun sich auf. Etwa wenn die Überflüssige, die bisher nie Zeit hatte, nach der Kündigung mit ihrer Zeit nichts mehr anzufangen weiß. Oder wenn die Eiligen drei Tage kreuz und quer durch Europa reisen müssen, um zweimal Nein zu sagen. In diesen Mißverhältnissen sieht Kluge freilich auch einen Trost; in ihnen nimmt er die Selbstheilungskräfte der Vernunft wahr. Denn erst wenn der Mensch durch solche Mißverhältnisse innehält, verläßt erdie Bahn einer blinden Dynamik und eines fatalen Schicksals. "Wir nehmen Abschied von der klassischen Industrie", sagt Kluge. "Die Hände werden überflüssig. Jetzt geht es um die Zerlegung der Hirnteile und der einzelnen Sinne." Genau dafür gibt es aber keine authentischen Bilder mehr. Darum muß dieser Film auch "Abschied nehmen vom klassischen Kino", eben weil er dauernd Bilder erfinden muß von Dingen und Sachverhalten, von denen es eigentlich keine Bilder mehr geben kann.