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Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit

Von Alexander Kluge + Hans Magnus Enzensberger | Quelle WELT AM SONNTAG | | Gespräche

Von Kleist bis zur "Bild"-Schlagzeile: Dieser Tage veröffentlicht Hans Magnus Enzensberger zwei neue Bücher. Ein Gespräch über das Erzählen einfacher Geschichten.

Ich hatte fasziniert im Frühherbst verlagsintern die Fahnen der beiden neuen Bücher von Hans Magnus Enzensberger gelesen: sein "Album", ein ideensprühender, gedankenverschwendender Querschnitt durch sein Werk, und, als Gegenstück dazu, "Meine Lieblingsflops, gefolgt von einem Ideenmagazin", einer Anthologie hoffnungsfroher Projekte. Ich schlug ihm ein Gespräch darüber vor. Enzensberger war abweisend, er halte, sagte er, die Veröffentlichung von Büchern zu einem festen Datum für eine so ernste Sache, dass man nicht vorher darüber reden sollte. Außerdem, sagte er, sprächen Bücher für sich. Wenn ein Autor etwas hinzufügen wolle, hätte er es ja schreiben können.

Mir schien das logisch und plausibel. Und doch spürte ich diese Entzugserscheinung nach einem Gespräch mit ihm. Ich schlug deshalb vor, über ein anderes Thema zu sprechen: einfaches Erzählen und das Boulevardprinzip. Ich wusste, dass auch Hans-Magnus Enzensberger die Grenzübergangsstellen zwischen Boulevard und Literatur interessierten. Mit Heinrich von Kleists "Berliner Abendblättern" von 1810 beginnt der Boulevard. Darin finden sich Texte von nachhaltiger Wirkung. Der gemeinsame Nenner in allen Werken von Kleist heißt: "Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit." Hinzu kommt: Enzensberger und ich sind Zeitverwandte. Er ist drei Jahre älter. Das war im Jahr 1945 (ich war 13, er 16) etwas Drastisches, heute hat es sich verspielt.

Alexander Kluge: Wir haben den kleinen Mann im Ohr, wenn wir professionell tätig sind als Schreibende. Da ist ein Sechsjähriger, ein 16-Jähriger, ein 22-Jähriger, ein 80-Jähriger ...

Hans Magnus Enzensberger: ... die koexistieren dort.

Alexander Kluge: ... koexistieren und bilden ein kleines Orchester. Man ist nicht ganz frei, die Geschichte erzählt sich.

Hans Magnus Enzensberger: Ja, so können wir das von uns jedenfalls behaupten.

Alexander Kluge: Sie haben für Ihre Texte oft die Essayform gewählt. Sie gestattet Überblicke. Sie erlaubt Zuspitzungen.

Hans Magnus Enzensberger: Sehr schön beim Essay ist, dass er hält, was er seinem Namen nach verspricht. Es ist ein Versuch. Der Schreiber weiß nicht von Anfang an, was dabei herauskommt.

Alexander Kluge: Er wagt etwas.

Hans Magnus Enzensberger: Und das erlaubt die Veränderungen im Duktus, die Mischung. Ich kann einen Dialog integrieren. Warum nicht? Es ist Erkundung. Dem entgegengesetzt ist das Komprimat: das Gedicht. Der Vers, auch ohne Reim. Das ist der konzentrierte Ausdruck. Ich brauche dafür nicht 500 Seiten. Das, was man Lyrik oder Poesie nennt, ist etwas für ungeduldige Menschen. Es gibt ja im Roman eine Art von Gemütlichkeit des Erzählens, wenn jemand sich ausbreitet. Dieser großartige Erzähler Balzac breitet seine Sachen aus, aber wo die Mühle sich einfach nur weiterdreht, da werde ich ungeduldig. Ich überspringe zwei Seiten, um zu sehen, wie es weitergeht.

Alexander Kluge: Und das ist bei einem gelungenen lyrischen Produkt anders. Ich kann mich aufhalten. Es ist eine Relaisstation zu einer anderen Wirklichkeit hin.

Hans Magnus Enzensberger: Ich bin auf dem Land und nehme einen dicken dreibändigen Roman mit. Das ist eine Art Bett. Wie in einem Bett verhält sich der Leser. Danach besteht eine enorme Nachfrage. Romane sind nach wie vor eine führende und die ökonomisch erfolgreichste literarische Form. Die Theoretiker können sagen, was sie wollen mit ihren Thesen: Dekonstruktion der Texte, der Roman ist zu Ende. Das sagen sie seit 50 Jahren.

Alexander Kluge: Aber er ist nicht zu Ende.

Hans Magnus Enzensberger: Er ist überhaupt nicht zu Ende.

Alexander Kluge: Und trotzdem gibt es diese Relaisstationen; die Lyrik und die Essays halten sie bereit. Bei den Azteken gab es Depots, Nahrungsstationen, an der sich ein schneller Bote stärken kann, eine Apotheke, was ja "Niederlage", "Speicher" auf Griechisch heißt. Für lange Wanderungen im Leben ...

Hans Magnus Enzensberger: ... das gibt es nicht nur in den Großreichen. Ich war einmal in Lappland unterwegs. Dort gibt es eine alte Einrichtung, Depots. Es kann ja für den Wanderer gefährlich werden, wenn Schlechtwetter herrscht. Er kann verhungern, wenn er nicht weiterkommt, wenn es regnet und das Gelände versumpft ist. Dort gibt es seit Jahrhunderten kleine Buden, und wenn einer sich dorthin rettet und etwas verbraucht, zum Beispiel Holz, dann ist er verpflichtet, einen neuen Vorrat anzulegen für spätere Ankömmlinge.

Alexander Kluge: Diese stafettenartige Struktur, glaube ich, spielt in der Dichtung eine große Rolle. Ich bin keiner, der die Idee der Originalität besonders hoch schätzt. Ich meine, die wirklichen Verhältnisse und auch das, was Dichter darüber sagen, sind eine Stafette.

Hans Magnus Enzensberger: Man müsste so gut wie Ovid sein, das kann man sich doch wünschen.

Alexander Kluge: Ja, wünschen kann man sich das.

Hans Magnus Enzensberger: Ossip Mandelstam, der als Verbannter einen Titel von Ovid übernahm und seine Gedichte "Tristia" betitelte, wäre auf dem Weg zu Ovid.

Alexander Kluge: Es gab die Rede vom Nullpunkt. Il faut être absolument modern. Diese Forderungen hinken. Das beruht auf einer Illusion. Du fängst nicht von vorne an, wenn du schreibst, sondern du schreibst an einem überlieferten Text weiter.

Hans Magnus Enzensberger: Was etwas Schönes ist, wenn man sich vorstellt: Welcher Heereszug von toten Autoren, der sich in den Büchern bewegt. Das ist eine vertrauensvolle Perspektive.

Alexander Kluge: Man sucht in dieser Heerschar bestimmte Vorgänger und Muster ...

Hans Magnus Enzensberger: ... Vorväter.

Alexander Kluge: Man adoptiert sozusagen seine Großväter.

Hans Magnus Enzensberger: Wenn man auf unser 21. Jahrhundert blickt, das eine gewaltige neue Stoffmasse enthält, die unerzählt ist, kann man diese Verbündeten gut gebrauchen.

Alexander Kluge: Sie bilden eine Insel der Seligen ... auf einer Insel der Seligen würden wir sie treffen. In der Welt, in der wir uns befinden, sind wir eher als Spähtrupp im Minengelände tätig.

Hans Magnus Enzensberger: Wie erzählt man von Schwierigkeiten, ohne aufdringlich zu sein? Erzählen heißt ja auch, höflich zu bleiben. Ich muss darauf achten, was ein anderer wissen will.

Alexander Kluge: Das ist ein Vorsatz, der nicht von allen Autoren geteilt wird. Es gibt auch den Autor, der sagt: Ich will gar nicht, dass ihr mir zuhört. Ich will eure Sehgewohnheiten brechen.

Hans Magnus Enzensberger: Wäre Beethoven noch einmal so alt geworden, wie er wurde, unhöflich wie er war, taub wie er war, hätte er die Landschaft seiner Symphonien maßlos ausgedehnt.

Alexander Kluge: Ich denke da immer an Freud, der die Leute schockiert hat, aber auf eine Art und Weise, die geradezu unwiderstehlich höflich war. Ich finde: Gegen Höflichkeit ist nichts einzuwenden. Es gibt den ausschweifenden Erzähler und den reduzierenden. So wie es Langwelle und Kurzwelle gibt.

Hans Magnus Enzensberger: Kurze Zeiten, lange Zeiten.

Alexander Kluge: Nehmen wir die 70er-Jahre. Jeder stellt sich etwas darunter vor. In Wirklichkeit ist das eine Schachtel, in der alles mögliche steckt. Eher eine Dunkelkammer. Irgendwo in der Mitte der Erzählung liegt ein gravitatives Zentrum, das sich von den 60er-Jahren zuvor drastisch unterscheidet.

Hans Magnus Enzensberger: Eine Zehn-Jahres-Chronik beschreibt eine unsichtbare Wirklichkeit. Zu Anfang der 90er-Jahre sieht man Bin Laden weder mit den Augen der Öffentlichkeit noch mit denen der Geheimdienste. Er kämpft gegen die Russen in Afghanistan. Am Ende des Jahrzehnts haben Sie einen Bin Laden als Bombe mit Zeitzünder, die 2001 explodiert.

Alexander Kluge: Das ist eine sich unangemeldet entwickelnde Wirklichkeit. Sie hat Plötzlichkeit. Man muss das lang erzählen, und man muss das kurz erzählen. Ich muss zugeben, dass ich in letzter Zeit eine Vorliebe für eine Form entwickelt habe, die irgendwie in Misskredit geraten ist. Das ist die Anekdote. Ich finde die Anekdote eine sehr interessante Sache, sie hat auch eine lange Geschichte.

Hans Magnus Enzensberger: Kleist.

Alexander Kluge: Kleist zum Beispiel. Meine Lieblinge sind Autoren des achtzehnten Jahrhunderts. Sehr kaltblütig in ihrer Erzählweise.

Hans Magnus Enzensberger: Das sind Minutengeschichten.

Alexander Kluge: Es gehört zum Boulevardprinzip, dass man so erzählt, als wäre es eine Minutengeschichte. Oder Fünf-Minuten-Geschichten. Ich habe einmal ein Buch gemacht mit 111 Geschichten zu je fünf Zeilen.

Hans Magnus Enzensberger: Das sind dann schon Bilder.

Alexander Kluge: Verbrechen auf fünf Zeilen heruntergedampft. Die Geschichten gewinnen Prägnanz. Beim Schreiben gibt es, wie in der Leichtathletik, den Hundert-Meter-Mann, dann gibt es diejenigen, die Staffellauf treiben und den Stab an andere übergeben, dann gibt es die Fünftausend-Meter-Läufer bis hin zum Marathon. Ich bin selbst kein Langstreckenmann, man muss keine Tausend-Seiten-Bücher von mir befürchten.

Hans Magnus Enzensberger: Aber wenn Sie Ihren Lebenslauf nehmen, dann sieht man, dass bestimmte Themen, bestimmte Oppositionen (so wie Himmelskörper zueinander in Opposition stehen können) Sie lebenslänglich umgetrieben haben.

Alexander Kluge: Das hat mit dem historischen Gepäck zu tun. Eine gewisse unbeherrschbare Kontinuität. Ich genieße ja den Ruf, mal dies und dann wieder etwas anderes zu tun, ein intellektueller Wechselwähler zu sein. Das ist auch nur eine Halbwahrheit. In Wirklichkeit sind die Obsessionen vorhanden.

Hans Magnus Enzensberger: Also eine Schule für mich sind die "Berliner Abendblätter", die Kleist gegen Ende seines Lebens entwickelt hat. Das ist ein Boulevardblatt. Die Kriminalnachrichten erhält er vom Innenminister, den er kennt. Damit verknüpft er seine Anekdoten und Geschichten.

Alexander Kluge: Er ist ein Pionier in dieser Hinsicht. Sein Unternehmen wurde von der Behörde auch mit Misstrauen betrachtet, und die Nachrichtenzufuhr wurde ihm abgeschnitten. Er war zu früh dran.

Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichten Kleists, zum Beispiel die "Marquise von O...", sind blutige, genaue Geschichten. In dieser Prägnanz würden sie in der "Bild"-Zeitung nicht stehen.

Alexander Kluge: Das literarisch Interessante an der "Bild"-Zeitung finde ich die Schlagzeilen. Ich meine das Genre. Es besteht ein formaler Zwang. Ich kannte einen Journalisten, der für "Super Illu" und "Bild"-Zeitung gearbeitet hat, der war skrupellos. Und dann hat er die Schlagzeile erfunden: "Rosemaries letzter Tänzer war der Tod".

Hans Magnus Enzensberger: Das ist nicht schlecht.

Alexander Kluge: Ganz abgesehen von der berühmten Schlagzeile, die schon sprichwörtlich ist: "Wir sind Papst". Da muss man mal drauf kommen. In Frankreich gibt es eine alte Tradition, die der faits divers . Also die gemischten Nachrichten. Es gibt viele Autoren, auch Romanciers, die sich an diesem Genre bedient haben. Ich nenne nur Robert Musil.

Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichte vom Mörder Moosbrugger. Und "Der Mann ohne Eigenschaften" beginnt mit einem Wetterbericht.

Alexander Kluge: Auch Döblins "Berlin Alexanderplatz" ist ohne Zeitung nicht vorstellbar.

Hans Magnus Enzensberger: Es geht um das, was Menschen einander erzählen, wenn sie zusammentreffen, und was sie beim Friseur erzählen.

Alexander Kluge: Von Döblin gibt es ein Buch, "Die beiden Giftmörderinnen". Die Geschichte hat er aus der Zeitung. Der Journalismus hat eine Mienenhund-artige Fähigkeit, interessante Geschichten zu magnetisieren.

Hans Magnus Enzensberger: Es gab ja mal diese Trennung von U und E ...

Alexander Kluge: ... in jeder Rundfunkanstalt ...

Hans Magnus Enzensberger: ... und die muss man natürlich sabotieren. Unterhaltung und Hochliteratur schließen sich ja überhaupt nicht aus. Ich habe neulich wieder den "Ulysses" gelesen, den Monolog von Molly am Ende des Romans. Was dieser Frau von Leopold Bloom im Bett alles durch den Kopf geht. Das sind Dinge, die sie gehört hat, aber auch das, was sie irgendwo gelesen hat. Banalität, die zur Größe aufsteigt. Was Joyce da gemacht hat, ist toll.

Alexander Kluge: Mit der Kampfkraft eines Homer und der Ortskenntnis von Dublin.

Hans Magnus Enzensberger: Der Roman entwickelt einen Sog. Er besitzt einen unglaublich merkwürdigen Humor. Es ist auch unterhaltend, allerdings nicht nur das. Es ist keine dürre Avantgarde. Es ist das Gegenteil.

Alexander Kluge: Zum Boulevardprinzip würde gehören, dass man nie nur über die Hauptnachricht erzählt. Die Geschichte über Präsident Obama betrifft dann seinen Assistenten, und der hat eine Freundin, und am Ende hätte sich die Geschichte freigeschwommen von der Amtlichkeit.

Hans Magnus Enzensberger: Es ist ein Nachteil des Boulevards, dass er sich an die sogenannte Prominenz fesselt. Davon kann er sich so schwer trennen. Das Boulevardprinzip hat Freiheitsgrade, die es nicht nutzt. Andererseits gibt es die Serie "Kir Royal" ...

Alexander Kluge: ... mit Baby Schimmerlos als Klatschreporter ...

Hans Magnus Enzensberger: ... und daraus entsteht, das sah man kürzlich bei der Wiederholung, 20 oder 30 Jahre später ein verblüffend genaues Bild der Zeit. Ich glaube, dass auch Serien wie "Tatort" nicht wegen ihrer Handlung, sondern wegen ihrer unfreiwilligen Ethnologie und Geschichtsschreibung überleben.

Alexander Kluge: Quasi dokumentarisch.

Hans Magnus Enzensberger: Hinter dem Rücken der Regisseure und Darsteller entsteht etwas, was man auf andere Weise nicht findet. In einem ambitionierten Roman, der sich auf ideologische Fragen fokussiert, würde man davon nichts erfahren. Nun haben bei "Kir Royal" Autoren mitgearbeitet wie Patrick Süskind, und auch Helmut Dietl arbeitet wie ein Autor.

Alexander Kluge: Ein Vulkan in Island hat veranlasst, dass ein amerikanischer General mit seinen Offizieren in Paris aufgehalten wird.

Hans Magnus Enzensberger: Da war jemand von der Zeitung "Rolling Stone" dabei, der hat die Gespräche notiert und dann gedruckt, was über den Präsidenten Obama und andere Vorgesetzte in kleiner Runde erzählt wurde.

Alexander Kluge: Und dann wurde der General, Oberbefehlshaber in Afghanistan, entlassen.

Hans Magnus Enzensberger: Das ist etwas zum Erzählen. Ich habe nicht viel als Journalist gearbeitet. Aber an dem, was ich gemacht habe, habe ich viel gelernt.

Alexander Kluge: Zum Beispiel, als Sie das "Kursbuch" gründeten?

Hans Magnus Enzensberger: Zum Beispiel.

Alexander Kluge: Sprechen wir über Biografie

Hans Magnus Enzensberger: Die Gefahr bei der Biografie ist die Wichtigmacherei.

Alexander Kluge: Können Sie sich an den Frühling 1945 erinnern? Wie sah der Himmel aus? Haben Sie eine Erinnerung an den Tag, an dem Hitler starb, den 30. April 1945?

Hans Magnus Enzensberger: Ich erinnere mich, dass man sehr viel im Freien war. Riesige silberne Schwärme der Bomber. Sie ziehen Kondensstreifen hinter sich her. Achtzig Flugzeuge da oben.

Alexander Kluge: Wenn sie so hoch fliegen, werfen sie keine Bomben auf den Ort.

Hans Magnus Enzensberger: Unser kleines Kaff war uninteressant. Bomben hätten sich nicht gelohnt. Alexander Kluge: Wenn Sie als Dichter diesen Tag beschreiben sollten, wo würden Sie ansetzen?

Hans Magnus Enzensberger: Subjektiv war das eine fantastische Sache.

Alexander Kluge: Verdichtete Zeit.

Hans Magnus Enzensberger: Ich erinnere mich an die Flucht der Bonzen. Sie flohen in einem schwarzen Mercedes. Das war sehr schön, dass sie plötzlich nichts mehr galten. Eine Entwertung von Autoritäten. Ich erinnere mich, dass aus Versehen ein Zug in einem kleinen Bahnhof bombardiert wurde. Ein Munitionswagen war dabei. Ein Teil des Zuges flog auseinander. Aber da war auch Proviant geladen.

Alexander Kluge: Der Zug wird gestürmt.

Hans Magnus Enzensberger: Auf den Feldern hat man Butter gefunden.

Alexander Kluge: Eine Situation ähnlich der, wenn in Afghanistan Einwohner aus einem gestrandeten Benzinlastfahrzeug Benzin holten?

Hans Magnus Enzensberger: Unter Lebensgefahr. Und es war ein Waggon dabei mit Klassikerausgaben für die Soldaten.

Alexander Kluge: In dem zerstörten Zug noch Papier?

Hans Magnus Enzensberger: Ich habe diese Bücher eingesammelt. Hauff oder Goethe hatten wir dann in Kleinstausgaben zu Hause.

Alexander Kluge: Warum hat man das noch in den letzten Tagen hin und her transportiert? Es gab doch kaum noch Fronten.

Hans Magnus Enzensberger: Das ist die Trägheit der Institutionen. Jemand hat da noch einen Job ausgefüllt.

Alexander Kluge: Wollte etwas verbessern ...

Hans Magnus Enzensberger: ... unter dem Gesichtspunkt: Bevor wir es selbst zerstören, fahren wir das irgendwohin. Motive sind immer ganz gemischt.

Alexander Kluge: Noch im April 45 gibt es einen Flugverkehr der Lufthansa von Stuttgart nach Madrid. Auf dieser Mäuselinie flüchtet zum Beispiel der SS-Führer Degrelle, der Anführer der belgischen Nationalsozialisten.

Hans Magnus Enzensberger: Die Lufthansa war sehr erfolgreich. Das ist eine sehr gute Geschichte zum Erzählen.

Alexander Kluge: Es gibt Minutengeschichten, Jahrzehntgeschichten und Jahrhundertgeschichten.

Hans Magnus Enzensberger: Das Jahrhundert des Fliegens. Max Eyth ist einer der frühen Erzähler der Technikgeschichte. Bernhard Kellermann schrieb 1913 den Roman "Der Tunnel". Das sind nach wie vor Stoffe. Das 21. Jahrhundert enthält besonders viel Stoff für gründliche Erzählungen.

Alexander Kluge: Historiker sind eigentlich sehr gute Erzähler, also Tacitus, Droysen ...

Hans Magnus Enzensberger: Sie können schreiben. In diesem Sinne ist auch Montaigne ein Historiker und ein Autor gleichzeitig. Ohne die Vorarbeit der Experten kann man sich als Schriftsteller nicht bewegen. Darin sind Schriftsteller unter anderem auch Ausbeuter. Sie übernehmen einen Stoff. Aber dann kommt es darauf an, ihn zu erzählen.

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Schriftsteller und Filmemacher. Das Gespräch wird in voller Länge am 23. Januar nächsten Jahres in der dctp-Sendung "News & Stories" auf Sat.1 um 0.30 Uhr gesendet.

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