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„Die Wirklichkeit selbst ist der Erzähler”

Von VINCENT PAUVAL | | Gespräche

Ein Gespräch mit Alexander Kluge - aus dem Französischen übersetzt | Revue Fario, n°12, Belles-Lettres

VINCENT PAUVAL: Ich möchte Ihnen vorschlagen weiter zu graben, ausgehend vom Jahr 1966, um welches diese Geschichten kreisen, denn eigentlich ist das Graben doch von Beginn an, sprich seit den 1960er Jahren, die Voraussetzung Ihres Erzählunterfangen.

ALEXANDER KLUGE: Jawohl, ich bin ein Kind von 1962, das heißt geboren bin ich 1932, aber 1962 war ich dreißig Jahre alt und habe mein erstes Buch Lebensläufe veröffentlicht und auch meinen ersten Film Abschied von gestern vorbereitet.

V.P.: Welche Bedeutung hat dann dieses Jahr 1966 für Sie?

A.K.: Schauen Sie, ich bin ein Vor-Achtundsechziger. Gerhard Richter oder ich könnten uns Zweiundsechziger nennen, im Gegensatz zu den Achtundsechzigern, also die Protestbewegung der Studenten, und insofern sind wir etwas älter als die, und unseren Punkt, an dem wir unser Hauptinteresse eigentlich einmal definieren konnten, haben wir 1966 gehabt. Insofern, könnte man sagen, sind wir Sechsundsechziger, anstatt Zweiundsechziger, und das macht uns verwandt.

V.P.: Historisch betrachtet ist das Jahr 1966 eigentlich kein besonderes Jahr und gerade auch kein besonderer Wendepunkt im Vergleich zum Jahr 1968.

A.K.: Wir würden da sehr kritisch sein, was Wendungen betrifft. Für uns in der Bundesrepublik – denn nur davon kann ich sprechen – ist das Jahr 1962 ein Moment der Befreiung; da ist die Kubakrise, und es ging eine Katastrophe an uns vorüber; es ist die Spiegel-Krise, die stürzte das Regime von Adenauer und damit fängt sozusagen bei uns in Deutschland eine zweite Bundesrepublik an und die hat jetzt bis 1966 Zeit, denn schon im Juni 1967 wird diese kurze Phase einer neuen selbstbewussten deutschen Öffentlichkeit gestürzt, durch die Abwanderung des Interesses auf die studentische Protestbewegung; wir armen Zwerge, Gerhard Richter und ich, sind sozusagen noch 1966 auf eine Art von Öffentlichkeit fixiert, die sehr allgemein ist, die mehr mit den zwanziger Jahren zu tun hat als jetzt mit dem, was man später in den 1970er Jahren vorfindet.

V.P.: Also eigentlich meint dieses Jahr 1966 kein festes Zeitmaß, denn entgegen dem, was der Gesamttitel dieser Texte zu versprechen scheint, handeln diese Texte weder von dem Werk Gerhard Richters noch vom Jahr 1966.

A.K.: Mein Zeitgefährte, Gerhard Richter, der nur fünf Tage vor meiner Geburt geboren wurde, rührt mich da an. Hier geht es aber nicht allein um Malerei, sondern auch um Zeiterfahrung, wobei er sich als Maler ausdrückt, und ich mich als Erzähler. Beide sind wir damals ungefähr dreiunddreißig Jahre alt, wir nähern uns der Hälfte des Lebens…

V.P.: Demnach wäre 1966 hier auch keineswegs ein freier, beliebiger Bezugspunkt einer Zeitrechnung am Rande der Zeitgeschichte.

A.K.: Nein, aber ich habe damals, 1966, Abschied von Gestern in Venedig gezeigt und damit den silbernen Löwen gewonnen; das ist seit Jud Süß die erste Auszeichnung durch dieses Festival für mein Land gewesen. Und schließlich können wir die Differenz gut empfinden: Die Auschwitz-Prozesse beginnen 1963, und Gerhard Richter hat hier einen Höhepunkt, an dem er das, was man bei Kleist in den Berliner Abendblättern erzählt hat oder was man „vermischte Nachrichten” nennen würde, mit Bildern versieht, die Dauerwert haben.

V.P.: Sie breiten aber in diesen Geschichten die Zeitebenen und die Momente hierarchielos nebeneinander aus; bezeichnet dies nicht im Grunde die Fortsetzung Ihrer Arbeit als Chronist?

A.K.: Ein Chronist ist immer beiden Seiten verpflichtet, nämlich dem Tag und tausend Jahren, und  insofern ist die Enthierarchisierung der Zeitebenen, sowohl bei Richter als bei mir, ein ganz wesentliches Element.

V.P.: Der Chronist ist aber auch derjenige, der, um mit Benjamin zu sprechen, am „Steinbruch der Geschichte” arbeitet.

A.K.: Kann man sagen, und aber zugleich emotional arbeitet und gleichzeitig mit den Händen arbeitet.

V.P.: Benjamin gehört ja nicht nur zu Ihren geistigen Vätern, er war ja auch der Übersetzer von Marcel Prousts Recherche du temps perdu. Adorno, der in diesen Geschichten ebenfalls Erwähnung findet, riet Ihnen einige Jahre zuvor sogar vom Schreiben ab, da man Proust nicht übertreffen könne.

A.K.: Das würde ich heute noch unterschreiben: Man kann Proust nicht übertreffen, aber die Literatur ist offen und neben den Themen, die Proust behandelt hat und wo er auch große Voraussicht auf das ganze Jahrhundert hat, gibt es sozusagen so viel zu erzählen… Adorno hielt mich für einen sehr kompetenten Juristen und wollte meine Arbeitskraft für das Frankfurter Institut für Sozialforschung so erhalten und war sowieso dagegen das ich Nebendinge treibe, und Literatur nach Proust war für Ihn „Nebending”; ich habe ihn später mit meinen Filmen überzeugen können, literarisch hätte ich ihn wohl nie überzeugen können.

V.P.: Wie bei Proust, der ja zu Ihren Lieblingslektüren gehört, erleben wir auch durch Ihre Erzähltexte eine Rückblende, die übrigens aber nicht eine Rückblende allein ist, sondern auch ein  Schnipsel-Montagewerk um die Zwischentöne der Gefühle; Proust sprach seinerseits unter anderem von „intermittences du cœur”.

A.K.: Darin ist Proust der absolute Meister. In der Zeit der Commune, 1871, wird dieser Proust in Paris geboren, ein Kind der Revolution sozusagen; literarisch ist er für mich revolutionär, politisch ist er es zweifellos nicht. Und diese  Betrachtungsweise, die ist inhärent, die hat mich zu allen Zeiten bewegt; er ist ein Meister der Beschreibung des Augenblicks und er ist derjenige, der Ewigkeitsmomente in der Literatur verfestigt hat.

V.P.: Im Unterschied zu Proust vollzieht sich diese Rückblende in Ihren Werken jedoch nicht allein auf der Grundlage der persönlichen Welt- und Selbsterfahrung einer Erzählerfigur; sie handhaben das eher multiperspektivisch. Würden Sie Prousts Meisterwerk wieder zerschnipseln?

A.K.: Zerschnipseln nicht, aber ihn als Cousin und Bruderherz – wobei ich der kleinere wäre – neben mir zu sehen, das würde mir sehr gut gefallen. Ich habe jetzt gerade in den letzten Wochen eine Geschichte geschrieben, in der Proust selber vorkommt, die Geschichte, dass er auf einem Ball in Paris 1916 den Adjutanten von Pétain, den jüdischen Offizier Helbronner, begleitet von weiteren jungen und männlich-attraktiven Offizieren in einen Ballsaal hineinstürzen sieht. Da kommen diese Herren in enganliegenden Hosen von der Front, noch stinkend von der Bahnfahrt, hereingestürmt, und er ist erschüttert und wartet vor den Toiletten darauf, dass der Helbronner herauskommt; es ist dieser schönste und edelste Jude Frankreichs, der 1943 verhaftet wird. Er ist der Vorsitzende des Rates der französischstämmigen Juden, die Einwanderer und Flüchtlinge ablehnen; obwohl er Freund von Pétain und des Kardinals von Lyon ist, wird er verhaftet, über die Grenze gebracht, in Auschwitz getötet. Diese Verbindung zwischen einer Proust-Perspektive und jener Perspektive des Holocausts ist bei einem Menschen, der die bürgerliche Gesellschaft wie kein anderer repräsentiert als dieser Helbronner, das ist zum Beispiel etwas, was die proustsche Perspektive verlängert, und so bin ich Diener dieses großen Meisters auch im Sinne Adornos. Er würde sagen, den fortzusetzen hat immer einen Sinn; hier hätte ich bei meinem Meister Adorno Anerkennung gefunden.

V.P.: Im Jahr 1965-1966 erscheint in Frankreich Prousts Recherche du temps perdu erstmals im Taschenbuch, zeitgleich erscheint auch Ihre Schlachtbeschreibung in französischer Übersetzung bei Gallimard.

A.K.: Ich muss sagen, dass das zwar eine Koinzidenz ist, die dem Zufall zu verdanken ist, aber auch eine Sache darstellt, die mich ungemein berührt; wenn ich sozusagen die Aufgabe hätte, mich mit dem Proust, der ja nicht tot ist – wenn einer solch ein Poet ist, stirbt er nie –, zu unterhalten über Stalingrad, wäre dies mir ein ganz großes Interesse und ich würde dann mit ihm gemeinsam, ich als Hilfsarbeiter, er als Meister, die Geschichte erzählen von dem Heeresrichter der 6. Panzerdivision, der, als der Kessel um Stalingrad geschlossen ist und diese Panzerdivision versucht, die Kameraden in Stalingrad zu entsetzen, mit einer Verzögerung von zwei Wochen aus Paris hinterhergefahren kommt und die kleinen Strafen, die von den Soldaten verwirkt sind, noch nachträglich an der Front vollzogen wissen möchte. Er kommt hin und wird von niemandem gehört. Es geht um Wachvergehen, Besuch eines französischen Lokals, das verboten war, usw., lauter Kleinigkeiten – und diese Kleinigkeiten zu konfrontieren mit dem Geschehen, dass man aus so einem Kessel niemanden herausholen kann, das ist eine schöne Geschichte, die mich fesselt, und ich möchte sie gern in der Proustschen Methode erzählt sehen.

V.P.: Aber an dieser Schlachtbeschreibung, wie sie damals erschienen ist, wird vor allem auch deutlich, inwiefern Ihr Werk und das von Proust zwei ganz verschiedene Auffassungen von Literatur einerseits und von Realismus andererseits darstellen, wenngleich Sie, wie auch seinerzeit Proust, ein Bewunderer von Balzac sind.

A.K.: Also bei Balzac würden diese beiden Strähnen zusammenfallen, nämlich die Zuneigung, Dokumentarisches zu beobachten und mit mehreren Wirklichkeiten umzugehen, das ist zum Beispiel meine Methode, und die genaue Beschreibung innerhalb einer konkreten Gesellschaft wie dies seine Domäne ist. Die Wurzel Balzac wäre etwas, wozu sowohl Proust als auch ich sagen könnten: Das ist unser Vater, das ist eine Wurzel.

V.P.: Und der Vater von Balzac wäre wiederum Rabelais.

A.K.: Da kommen wir an einen Punkt, der mich fesselt, die Groteske; das, was das Zwerchfell erschüttert, gehört in die Literatur.

V.P.: Es ist wohl kein Zufall, das dieser Geschichten-Zyklus ausgerechnet mit einer Eulenspiegelei endet.

A.K.: Wohl war! Der Eulenspiegel ist ein deutscher Held, ein kritischer Held, wenn Sie so wollen, der aus den Bauerkriegen kommt; inwiefern eine bäuerliche Komponente eine Vorfahrin Prousts ist, da bin ich mir nicht sicher.

V.P.: Vielleicht Balzacs?

A.K.: Bei Adorno heißt es: „Kommt der Bauer in die Stadt, so scheint ihm alles verschlossen.” Das ist der Anfang des Essays von Adorno über Balzac. Er hat diese agrarischen, staunenden, auf Bauernwitz beruhenden Überraschungswirkungen, da ist er neugieriger, als Proust je war.

V.P.: Wie Proust schreibt ja schon Balzac eine « histoire du cœur humain »; er sah sich ferner als Historiograph der Gesellschaft, sozusagen als Sekretär, der ein Inventar der Laster und Tugenden seiner Zeit zu erstellen versucht. Er geht auf das Ganze, auf die weiten Zusammenhänge.

A.K.: In diesem Sinne führt von Balzac, der Panoramen, ganze Gesellschaften schildert, zu Walter Benjamins Passagen-Werk und Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, ein Inventar des 19. Jahrhunderts, dessen Erfahrung wir im 20. Jahrhundert im Grunde so bitter enbehrt haben; dieses Passagen-Werk noch einmal aufzunehmen für das 21. Jahrhundert, wäre im Grunde eine kollektive Arbeit, das würde alle Poeten der Welt herausfordern können; darin liegt eine gewaltige Perspektive und die geht nicht über Proust, sondern über Balzac und Benjamin.

V.P.: Und die setzt wohl vielmehr eine Haltung als eine Ästhetik voraus.

A.K.: In der Tat.

V.P.: Betrachtet man vor allem Ihr früheres Werk, kennzeichnet es sich durch einen dokumentarischen Radikalrealismus, aber auch in den neueren Texten wie die für Gerhard Richter greifen Sie auf faits divers zurück, zum Beispiel die Ermordung von acht Lernschwestern in Chicago oder durch die Anspielung auf eine trink- und mitteilungsfreudige Bischöfin, so dass es zu einer gewissen Eingrenzung des Fiktionalen zu kommen scheint. Sie bräuchten auch keine Maler Elstir oder Frenhofer zu erfinden, wie man sie aus Prousts oder Balzacs Werken kennt.

A.K.: Nein, denn die Wirklichkeit selber ist der Erzähler geworden, und natürlich ist die Perspektivität, und dass ich mit den Optiken wirklicher Menschen, mit dem Blick subjektiver Menschen auf die Welt arbeite, nicht zu leugnen; aber gleichzeitig erzählt die Wirklichkeit selber die großen Romane.

V.P.: Es gibt von Balzac einen Roman, Das Chagrin-Leder, der erste Roman in seiner Comédie Humaine, der zwar ein realistischer Roman ist, jedoch auch fantastische Aspekte enthält. Ähnlich wie in Ihren Geschichten für Gerhard Richter kommt darin eine Art zauberisches Hautprinzip zum tragen, als Meditation über die Lebenszeit.

A.K.: Wobei ich bemerkenswert finde, dass es sich eigentlich um Leder handelt, zumindest rein materiell betrachtet, wenn auch entgegen seiner deutschen Fassung im Originaltitel tatsächlich von Haut die Rede ist1. So als wären Leder und Haut in der französischen Sprache durch ein- und dasselbe Wort bezeichnet. Balzac muss sich dieser Verschränkung bewusst gewesen sein, wie sie ebenfalls die russische Sprache aufweist. Das Chagrin-Leder ist das Beispiel, welches mir gerade in der letzten Woche von einer Interview-Partnerin gesagt wurde, die in russischer Sprache über das Prinzip Haut sprach, und da nannte sie Balzac.     

V.P.: Interessant ist an diesem Roman, worin es um den Helden Raphaël de Valentin geht, benannt nach dem italienischen Maler aus der Zeit der Renaissance, dass dieser als Schriftsteller zunächst vorhat, eine Theorie des Willens zu schreiben, woran er schließlich scheitert; er wird von seinen Wünschen beherrscht und mit jedem Wunsch schrumpft dieses Leder, also auch seine eigene Lebenszeit, bis er einer letzten Lust erliegt. Eine sehr faszinierende Wendung, finden Sie nicht?

A.K.: Eine absolut faszinierende Wendung, und hier merken Sie auch, dass das sogenannte Dokumentarische gar nicht auf Realismus fixiert ist, sondern auf Deutung; und dass man in seiner Haut lebt und dass gewissermaßen die Haut klüger ist als der Verstand, das sind Dinge, die Sie bei Balzac finden. Es gibt eine recht rätselhafte Geschichte von Till Eulenspiegel, den Sie ja schon nannten, diesen deutschen Bauernpoeten aus dem Mittelalter, der dem Rabelais verwandter ist in unserer deutschen Literatur als jeder andere: Der hat sich, als er verfolgt wurde vom Kurfürsten von Hannover in eine Pferdehaut einnähen lassen und gesagt: Dies ist mein Haus. Darauf hat der Kurfürst gesagt: Da kann man nichts machen, der sitzt in seiner Haut. Unser größtes Organ ist die Haut und mit ihr ist das Äußere das Innerste zugleich. Sigmund Freud sagt, wir können eigentlich moralisch gegen Krieg nichts ausrichten, der wird durch Moral nur intensiviert, aber unsere Haut hat die Fähigkeit zur Allergie; das schreibt er 1939 an Einstein. Diese Haut mit Allergie, die hält Verdun nicht aus, sie kann uns warnen.

V.P.: Vielen Dank für dieses Gespräch!

 

 

Fario présente : Onze histoires pour Gerhard Richter autour de l’année 1966

mit Bildern von Gerhard Richter, einem Gespräch mit Alexander Kluge und einem Nachwort auf Französisch erschienen in der Zeitschrift Fario.

Après avoir publié des textes inédits de W. G. Sebald, de Rosa Luxemburg et des poètes du ghetto de Czernovitz, la revue de littérature et d’art Fario fait paraître en version française dans son douzième numéro Huit thèses sur le besoin de Günther Anders et leur discussion par, entre autres, Adorno, Brecht et Horkheimer, ainsi que des poèmes de Rose Ausländer et Onze histoires inédites que Alexander Kluge a dédiées à Gerhard Richter, suivies d’un entretien exclusif avec l’auteur. La revue poursuit ainsi son travail de réflexion critique sur la société capitaliste et industrielle, sur l’écriture comme acte politique de résistance.

Revue Fario, n°12, Belles-Lettres, automne 2012 – hiver 2013, 368 pages, 28€ : www.editionsfario.fr/spip.php