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Alexander Kluge 80 | "Eigentlich ist Geburtstagfeiern eine Kindersache"

Von Andreas Rosenfelder | Quelle Welt Online/www.welt.de - Kultur | | Aktuelles

Statt Glückwünschen: Ein Gespräch mit Alexander Kluge, der heute 80 wird, über Topfschlagen, Führers Geburtstag und die Macht der Sterne.

Was kann man Alexander Kluge schenken, wie soll man ihn beglückwünschen? Der Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehproduzent, der am Dienstag seinen Achtzigsten feiert, hat sich doch selbst mit einem unvergleichlichen Werk beschenkt, und auch mit Worten war er immer großzügig, ja verschwenderisch. Soeben erschien bei Suhrkamp „Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe“. Wir haben uns entschieden, ihn, den großen Fragesteller, selbst zu befragen – über das Datum, mit dem jeder Lebenslauf beginnt, nämlich den Geburtstag.

Welt Online: Herr Kluge, warum feiern wir eigentlich Geburtstag?

Alexander Kluge: Das machen nicht alle Menschen. Muslime wissen oft gar nicht, an welchem Tag sie geboren sind. Im Mittelalter war das ähnlich. Wir kennen nicht den Geburtstag von Friedrich Barbarossa. Je wichtiger dann die Individualität wird, desto eher wird der Geburtstag gefeiert: Ich freue mich, dass ich geboren bin.

Welt Online: Also geht es um Eitelkeit?

Kluge: Ich glaube, dass es einen tieferen Grund gibt. An zwei Tagen im Jahr bekommen Kinder Geschenke, nämlich an Weihnachten und am Geburtstag. In beiden Fällen ist eine Gefahr in der Nähe. Bei Christi Geburtstag, als die Könige aus dem Morgenland ihre Geschenke bringen, steht schon der bethlehemitische Kindermord am Horizont. Ein Neugeborenes ist immer gefährdet, denn wir kommen unbewaffnet in die Welt, nicht wie die Igel. Also müssen die Hirten aus dem Felde herbeieilen. Aus diesem alten Aberglauben, es könnte etwas passieren, feiern wir in jeder normalen Familie heute noch Geburtstag. Der Clan schart sich schützend um das Neugeborene, und das wird dann Jahr für Jahr wiederholt, mit Eltern und Paten und Onkeln und Tanten und Großeltern. Die schwören dem Geburtstagskind zu: Wir mögen dich, wir schützen dich. Wie bei einem guten König, der von seinen Untertanen einen Huldigungseid bekommt.

Welt Online: Als Geburtstagskinder verwandeln wir uns in Alleinherrscher. Wir entscheiden, was die anderen tun. Jeder Wunsch wird uns gewährt.

Kluge: Ja, jeder Geburtstag hat mit Macht zu tun. Der Sohn Napoleons zum Beispiel, der König von Rom: Seinen Geburtstag feiern alle Grenadiere, das feiert ganz Frankreich. Und bei Kim Il-sung, dessen Palast man zum Mausoleum umbaute, wirkt sogar der Todestag wie ein Geburtstag weiter, denn alle Genossen in der nordkoreanischen Volksrepublik dürfen ihren Geburtstag an diesem Tag nicht feiern. Sie müssen ausweichen, der Herrscher hat Vortritt. Ich brauche jetzt nicht an Führers Geburtstag zu erinnern, der ja auch ein Ritual war.

Welt Online: Das klingt fast, als sei der Geburtstag ein böses Fest.

Kluge: In der satanischen Literatur wird überliefert, dass man den Geburtstag als übertriebenes Hauptfest feiern müsse. Ein Mensch sei in der Lage, sich zum Gott zu erklären. Das ist der Triumph des Teufels.

Welt Online: Erröten wir deshalb, wenn alle im Chor „Happy Birthday“ singen?

Kluge: Der Geburtstag ist ein Krönungstag des Individualismus. Während Heiligabend noch etwas anderes hat, eine Komponente von Solidarität.

Welt Online: Aber der Individualismus hat doch auch sein Recht.

Kluge: Man könnte durchaus sagen, wir sollten alle mal die Ich-Schranke senken, wenn wir jetzt sieben Milliarden sind auf unserem Planeten. Aus Achtung davor, dass es so viele Menschen gibt und darunter eben auch so viele mögliche Auswege, also Chancen darauf, dass jemand geboren wird, der mehr weiß als seine Vorfahren. Wir könnten auch Geschenke untereinander verteilen, wenn wir gemeinsam Anlass haben, uns glücklich zu schätzen. Das wird aber die Gewohnheit des Geburtstags, die Erwartung der Kinder und die Erwartung der Eltern, nicht ändern.

Welt Online: Und Sie, feiern Sie denn nicht gerne Geburtstag?

Kluge: Ich habe mal eine Reihe gemacht über den Mann von fünfzig Jahren. Das wäre, in der Mitte des Lebens, ein Feiertag, an dem man vorwärts und rückwärts guckt wie ein Januskopf. Das finde ich moderner als den Geburtstag. Obwohl ich nie vergessen werde, wie ein Geburtstag in der Kinderzeit geht.

Welt Online: Wie denn?

Kluge: Ich bin ein Kind der Dreißigerjahre. Da gibt es am Morgen Geschenke. Dann trudeln um zwei Uhr die Freunde ein. Dann wird, nur einmal im Jahr, ein bestimmtes Gefäß mit Vanillepudding ausgefüllt, die Abbildung eine Hasen. Dann gibt es das Lieblingsessen, Kartoffelpuffer. Dann große Kaffeetafel, Geschenke für die Freunde und Topfschlagen. Und dann ist man so aufgeregt und überanstrengt, dass es am Abend immer Streit und Heulen gibt. Also geht es ohne Essen ins Bett. Das ist ein traditioneller Geburtstag. Ich habe Adorno gefragt, das war genauso bei ihm.

Welt Online: Auch im Alter bleibt der Geburtstag eine leicht burleske Veranstaltung. Die Torte, die Luftballons, all das.

Kluge: Ein Erwachsener, der seinen Geburtstag feiert, spielt immer eine Maskerade. Eigentlich ist das eine Kindersache, und zwar im positiven Sinn. Der Ältere braucht das nicht, der braucht nicht die Zusicherung von Schutz dagegen, dass ihn gleich Geister überfallen.

Welt Online: Warum haben wir keine Angst vor dem Geburtstag? Immerhin kommen wir dem Tod um ein Jahr näher.

Kluge: Ich würde mich da schon daran erinnern, dass von den 35.000 Tagen, die ein Menschenleben hat, der Löwenanteil verlebt ist. Nun wird keiner seinen Anverwandten und Vertrauten zumuten, einen Trauertag daraus zu machen. Aber mein Vater hatte die Gewohnheit, zu seinem Geburtstag einen Spaziergang zu machen und in sich zu gehen. Er war übrigens Arzt und Geburtshelfer. In meiner Kinderzeit habe ich etliche Geburten beobachten können. Und die Hebammenkunst verehre ich noch mehr als alle Rituale um den Geburtstag. Wir haben den Grobgriff, und wir haben den Feingriff. Letzteren müssten wir feiern, er macht den Menschen aus.

Welt Online: Verliert sich mit der Anzahl der Lebensjahre die Bedeutung der einzelnen Geburtstage?

Kluge: Vollkommen. Ich habe mich irgendwann schutzgeimpft gegen jede Übertreibung des Geburtstagsgedankens. Im Winter 1945 merkte ich durch Bombenangriffe, dass es mit uns Kindern nicht nur gut gemeint ist, sondern dass es Mächte gibt, bei denen kein Schutzengel hilft. Wie soll der auch eine Bombe aufhalten? Da habe ich gedacht, es gibt nichts zu feiern, wenn ich überlebe, habe ich mehr Glück als Verstand. Deshalb ist mein Ichgefühl, das im Geburtstag gefeiert wird, sehr sachlich geworden. Nur zusammen mit anderen fühle ich mich stark. Nicht aus Minderwertigkeitskomplex, sondern weil ich glaube, dass Geselligkeit etwas ist, das wir besser erklären können als die Feier des Ichs. Und Gott sei Dank leben wir ja nicht allein.

Welt Online: Robinson Crusoe feiert seinen Geburtstag, der zugleich der Tag seines Schiffbruchs ist, ganz allein auf seiner Insel.

Kluge: Aber in seinem Kopf ist ganz London. Das ist der Prototyp des bürgerlichen Menschen, der auch alleine noch in Gesellschaft ist.

Welt Online: Sie haben am Valentinstag Geburtstag.

Kluge: Ja, aber was mich mehr ehrt, ist, dass am 9. Februar 1932 Gerhard Richter geboren ist, sodass wir Monatskameraden sind. Und dass auch Edgar Reitz mein Jahrgangsgenosse ist, ein halbes Jahr jünger, von ihm habe ich Filmemachen gelernt. Das ist zwar alles Aberglauben, aber doch ist die Verbindung, dass man aus dem gleichen Jahr stammt, eine sehr starke. Und ich bin immerhin ein Jahr ohne Hitler auf der Welt gewesen.

Welt Online: So ganz sachlich sehen Sie den Geburtstag auch nicht.

Kluge: Natürlich, da ist immer noch dieser Aberglaube, dass die Sterne die Wege leiten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nicht tun. Aber zugleich ich bin überzeugt, dass unsere Leben Schwerkräften folgen, wie es die Sterne tun. Dass wir immerzu angestupst werden durch Zufälle, die uns vorwärtstreiben wie Einschläge von Himmelskörpern. Und dass doch von den Vorfahren her etwas in uns ist, das wie ein Magnet auf diese Zufälle antwortet. So entsteht eine Handschrift, ein Fingerabdruck des eigenen Lebens. Das gibt es auch ohne Geburtstagsfeier. Aber warum soll man nicht den anderen die Freude machen? So viele Riten, die leicht verständlich sind, haben wir nicht in der Welt.